„Melinda House. Es ist einem Christian-Dior-Kleid aus den 1950ern nachempfunden. Als ich es gesehen habe, habe ich gleich an dich gedacht. Das Braun passt wirklich gut zu deinem kastanienbraunen Haar. Die perfekten Farben für das Erntefest.“
Die Haare noch in Lockenwicklern, kam Mama herein, in einem schulterfreien Organzakleid in dunklem Orange.
„Mama!“ Avery pfiff und beobachtete ihre Mutter durch den Spiegel. „Du siehst … gar nicht aus wie meine Mama.“
„Miss, bitte, wir sind gleich hier fertig.“ Mit festem Griff hob Natasha Averys Kopf.
„Ich mach mich ganz gut für eine, die länger, als sie sich erinnern kann, in der Küche gestanden hat, was?“ Mama legte eine langsame Drehung hin. „Ich glaube, ich rocke dieses Kleid, wie man so sagt.“
Avery lachte. „Hör mal einer an. Meine Mama, der Hipster.“
„Was das nun wieder heißen soll.“ Mama beugte sich über Averys Schulter. „Du siehst bezaubernd aus, Liebes. Nun, ihr beide werdet schleunigst in meiner Suite erwartet. Rollins bringt Tee auf mein Zimmer.“
„Tee in deiner Suite? Schleunigst?“ Avery zog ein Gesicht und tauschte ein Lächeln mit Susanna. Mama trank morgens nur Kaffee. Und sie sagte nie „schleunigst“.
„Nun, wenn man in einem Palast ist, lebt man wie von königlichem Geblüt. Früh genug gibt es wieder Töpfe, Pfannen und Fritteusen. Ich bin dann mal wieder weg, damit meine Zofe mir das Haar machen kann.“ Mama ging rückwärts zur Tür und versuchte sich an einem brightonschen Akzent, während sie so tat, als würde sie aus einer Tasse Tee trinken. Mit abgespreiztem kleinem Finger. „Bin ich nicht eine Augenweide?“
„Das ist keine Zofe, Mama“, rief Susanna hinter ihr her. „Sie ist eine Stylistin, die der Palast für besondere Anlässe beauftragt.“
Zu spät. Mama war weg.
Natasha gab die letzte Strähne von Averys Haar frei und ließ sie über ihre Schulter fallen. Sie beugte sich vor, um Avery im Spiegel zu betrachten. „Da. Nun schauen Sie sich bloß mal an, mit Ihrem Hals wie dem von Audrey Hepburn. Was meinen Sie, Hoheit?“ Natasha wandte sich an Susanna.
„Ich finde, meine Schwester sieht wunderschön aus.“
„Dann bin ich hier weg.“ Die Stylistin sammelte ihre Sachen zusammen. „Ich werde gehen und Leslie mit der Königinmutter helfen und bei Seiner Majestät vorbeischauen. Ich wünsche Ihnen eine wunderbare Zeit heute Abend.“
„Haben Sie vielen Dank, Natasha.“ Susanna erhob sich, als die Tür ins Schloss fiel. „Avery, wie geht es Mama? Ich meine, wie geht es ihr wirklich?“
„Sie ist anders. Irgendwie gedämpft, auch wenn kleinlaut nicht das passende Wort für sie wäre. Aber seitdem wir hier sind, ist sie lebendiger, als ich sie erlebt habe, nachdem Papa gestorben ist.“
„Sie weiß nicht recht, was sie ohne Daddy machen soll. Diese ganze Pseudozankerei hat nur versteckt, wie sehr sich die beiden geliebt haben und wie abhängig sie voneinander waren.“
„Was ist mit dir? Geht es dir gut?“ Avery schlüpfte in einen passenden Bolero und strich mit den Händen über den weiten Rock. Sie liebte prachtvolle Kleider.
„Ich schlage mich tapfer, obwohl es schwer war, so weit weg zu sein. Nathaniel hat mir geholfen, mit der Trauer zurechtzukommen. Er vermisst seinen Vater immer noch.“ Ihre Hand bewegte sich auf ihren Bauch und blieb dort liegen. „Das Kleine hier hilft.“
„Hast du Angst, es zu verlieren?“ Avery hakte sich bei ihrer Schwester unter. „Lass uns unseren Glauben zusammentun und darauf vertrauen, dass alles gut werden wird.“
Susannas Augen glitzerten. „Wir beten jeden Abend für dieses Baby. Aber ja, lass uns unseren Glauben zusammentun.“ Sie küsste ihre Schwester auf die Wange. „Ich bin so froh, dass du zur Welt gekommen bist. Du warst wie so eine lebendige, atmende, braunäugige, rothaarige Babypuppe für mich.“ Sie grinste und kniff in Averys Wange. „Die zu einer echten Landplage herangewachsen ist.“
„Hey. Aber nur weil ich so sein wollte wie du.“ Avery lachte und machte sich zum vorderen Zimmer auf. „Und wenn du meinst, ich sei eine Landplage, dann warte nur, bis dieses Baby auf der Welt ist.“
„Immer her damit, Schwester.“ Aber der Humor in Susannas Stimme spiegelte sich nicht in ihren Augen. Stattdessen sah Avery dort eine tiefe Ernsthaftigkeit. „Wir sind jetzt über vier Jahre verheiratet. Ich war fünfmal schwanger und habe sie alle verloren. Es fängt langsam an, sich wie eine schlechte Angewohnheit anzufühlen.“
„Nicht dieses Mal.“ Avery nahm das zum Kleid passende Täschchen zur Hand, das Melinda House mit herübergeschickt hatte, und stopfte ein Stück Kaugummi, einen Lippenpflegestift und ihr Lieblingslipgloss hinein. „Ich spüre das.“
„Leider spüre ich das auch. Bei diesem Baby geht es nicht nur darum, dass Nathaniel und ich uns eine Familie wünschen. Da geht es um das Hause Stratton und darum, einen Erben abzuliefern. Die Presse ist völlig verrückt deswegen und bringt Monat für Monat neue Schlagzeilen über unsere Fortpflanzungsfähigkeit. Als ob eine 450 Jahre alte Dynastie nur von meinem Uterus abhängt. Zum Glück versuchen es Corina und Stephen auch.“
Stephen war Nathaniels jüngerer Bruder. Seine Frau, Corina, noch ein Mädel aus Georgia, man mochte es kaum glauben, war eine amerikanische Milliardärstochter, die den Reserveerben heimlich geheiratet hatte.
„Dann entspann dich.“ Avery schob ihren Arm durch Susannas, während sie gemeinsam den vergoldeten, geschmückten Korridor mit der geschnitzten Decke (viele Kronen) und dem mehrere Zentimeter dicken burgunderroten Teppich entlang zu Mamas Suite gingen. „Gott hat all das angefangen, oder nicht? Angst und Sorgen helfen da nicht weiter. Schau dir alles an, was Er bisher für uns getan hat. Erinnerst du dich, was Daddy uns immer gesagt hat? ,Er lässt uns alle Dinge zum Besten dienen.‘ Der wird sich um Nathaniels Erben kümmern, Suz. Und in der Zwischenzeit lebst du mit einem Mann zusammen, der dich verehrt und liebt.“
Susanna berührte ihren Augenwinkel und bemühte sich darum, die Tränen zurückzuhalten. „Hör nur mal hin, wie meine kleine weise Schwester Ratschläge verteilt und dem Daddyismus frönt.“
Avery legte ihre Wange gegen Susannas Schulter. „Ich vermisse ihn. Und dich.“
„Es tut mir leid, dass das alles alleine auf deinen Schultern lastet. Für Mama da zu sein, meine ich.“
„Es läuft eigentlich ganz gut zwischen uns. Wir kommen zurecht. Aber als du angerufen hast, um zu sagen, dass du schwanger bist, und uns zu Weihnachten hierher einzuladen, habe ich ein Licht in ihr leuchten sehen wie seit der Beerdigung nicht mehr. Sie ist ganz lebendig geworden.“
„Dann lass uns das zum besten Weihnachtsfest überhaupt machen.“
„Das beste Weihnachtsfest überhaupt?“ Die Schwestern passierten den stimmungsvollen Lichterschein, den die Wandleuchter in den Flur warfen. „Ich glaube kaum, dass du das Weihnachten von 2006 überbieten kannst, als alle Cousinen und Cousins kamen und ich ein neues Fahrrad bekommen habe.“
„Oh, das war gut!“
„Oder das 2007, als es schneite …“
„Na ja, das, was wir im Süden Georgias eben so Schnee nennen.“
Avery lachte. Sie liebte das Rascheln und Rauschen ihres Rockes um ihre Beine. Sie liebte den Wirbel der Vorfreude auf den anstehenden Abend. Eine große, schnieke Party ohne Sorgen. Wenigstens für ein paar Stunden.
„Aber Junge, Junge, was hatten wir Spaß 2007, oder nicht?“ Sie hatte Colin gegenüber Susanna nicht einmal angedeutet. Am besten ließ sie die Vergangenheit einfach hinter sich. Außerdem sagte ihr ihr Bauchgefühl, dass er sowieso zur See war. Oder im Ausland stationiert. „Ich habe versucht, einen Schneeball zu machen, aber nichts wollte zusammenkleben, also habe ich einfach meinen nassen, leicht mit Schnee bepuderten Handschuh in Marco Hernandez‘ Gesicht geklatscht.“
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