„Mach ich, Vater!“, sagte Sarulf und verließ das Büro. Er stieg die Treppe hinab und ging über den Hof in die Käserei. Sieglunde Rabenfeder schritt ein Regal mit reifendem Käse ab, sie nahm hie und da einige Stichproben.
„Hallo, Mutter!“
„Hallo, mein Sohn!“
„Es wird Zeit für mich, Mutter, ich möchte mich von dir verabschieden!“
„Oh, ist das Wochenende schon wieder vorbei? Wie die Zeit doch verfliegt!“
„Ja, leider! Aber zu Jul habe ich Urlaub und komme nach Hause!“
„Das ist schön, mein Sohn! Pass auf dich auf und komm gesund wieder. Möge Odin dich beschützen!“
„Dich auch, Mutter! Jetzt muss ich aber los, ich will nicht zu spät kommen. Bis Jul, Mutter!“
„Bis Jul, mein Junge!“
Sarulf warf seiner Mutter eine Kusshand zu und ging zurück in sein Zimmer. Er schnappte sich den gepackten Rucksack, schulterte ihn und ging hinter das Wohnhaus, wo sein Antigrav-Scooter geparkt war. Die Technik dieser Fahrzeuge faszinierte ihn immer wieder. Wenn man bedachte, dass das Fahrzeug nur durch seinen Generator, der ein Feld erzeugte, welches Schwingungen aussendete, vom Boden abhob, konnte man schon ins Stauen kommen. Er musste nur noch den Fahrhebel betätigen, der den Generator startete. Die Schwingungen trafen schräg auf die Oberfläche auf und schoben das Fahrzeug vorwärts. Erhöhte er die Intensität der Schwingungen, beschleunigte das Fahrzeug. Sarulf strich über die glatte Oberfläche des Scooters und lächelte. Dann legte er seine Hand vor den Scanner, worauf dieser mit einem Piep meldete, dass er bereit war. Sarulf schwang sich auf die Sitzbank, rückte den Rucksack zurecht und startete. Mit einem leisen Surren hob der Scooter ab, Sarulf schob den Fahrthebel langsam nach vorn und schwebte vorwärts. Automatisch baute sich das Kraftfeld vor Sarulf auf, er schob den Hebel weiter vor. Mit zunehmender Geschwindigkeit fuhr Sarulf Rabenfeder in den diesigen November hinaus und in den nächsten Abschnitt seiner Ausbildung hinein.
* * *
Eine einsame Kerze versuchte die tiefe Dunkelheit des Raumes zu durchdringen und verbreitete ein diffuses Schimmern. Auf einem schlichten Lager, den ausgemergelten Körper umhüllt von verschlissenen Laken, ruhte eine bleiche Gestalt. Regungslos lag sie da, ein schwaches Röcheln verriet, dass sie noch lebte. Seit Wochen bekam der Mann nur das Nötigste an Nahrung und Flüssigkeit von seinen Glaubensbrüdern. Doch störte ihn dieses Martyrium nicht, im Gegenteil, es erfüllte ihn mit Stolz. Er war etwas Besonderes! Er war es, der den vernichtenden Schlag gegen die Ketzer und Frevler einläuten würde. Er würde dafür sorgen, dass seine Brüder und Schwestern über dieses verruchte Land kommen und seine führenden Köpfe abschlagen konnten.
Für seinen Gott würde er alles tun, wirklich alles. Er war ein heiliger Krieger, und bald würde er in den Krieg ziehen und die Welt von diesen Teufeln befreien.
Doch noch musste er etwas warten. Bis sein heiliger Leib gereinigt und wieder aufgebaut war. Erst dann war die Zeit gekommen, mit Feuer und Schwert über diese Brut der Hölle niederzugehen und sie mit Stumpf und Stiel auszurotten. Die Ketzer würden in Scharen ihren verderbten Göttern den Rücken kehren und ihr Heil bei dem einzig wahren Gott suchen. Doch der würde ihnen in seiner unermesslichen Gnade den Tod bescheren und sie von ihrem sündhaften Leben befreien. Ja, Gott war groß, und er war weise!
Er hörte er ein leises Schlurfen vor seiner Unterkunft. Einer seiner Brüder kam, um ihm Nahrung und Wasser zu bringen. Die Zeit der Reinigung war noch nicht vorbei, er musste sich in Geduld fassen. Leise murmelte er ein Gebet, welches ihn mit neuer Kraft und Zuversicht erfüllte.
Sachte öffnete sich die Zimmertür, ein fahler Schein durchdrang die Finsternis. Eine große Gestalt trat ein. Sie war in eine Art schwarze Kutte gehüllt, die Kapuze tief in das Gesicht gezogen. Wie ein Schatten kam sie an das Lager, schob dem Liegenden eine Hand unter den Kopf und setzte ihm eine Schale mit dampfender Flüssigkeit an den Mund.
„Trink, Bruder, trink!“
Er trank.
* * *
Ein Schemen, in eine Kutte gehüllt, dessen Kapuze sein Gesicht fast völlig verbarg, beugte sich über den Laptop. Dann lehnte er sich zufrieden zurück. Alles lief bestens, bald schon würde die Zeit gekommen sein, dass sie zuschlagen konnten. Er überflog noch einmal seine Eintragungen auf dem Bildschirm und hämmerte dann grinsend mit dem knochigen Finger auf die Entertaste. Erstes Ziel erreicht: In der Tiefe des Tempels lagen dreizehn heilige Krieger, die auf ihren Einsatz vorbereitet wurden. Wenn ihre sündigen Körper erst gereinigt wären, konnten sie daran gehen, ihre Leiber wieder aufzubauen und zu präparieren. Dann wären sie bald wieder so kräftig wie früher, nur eben ganz anders. Ja, ganz anders als normale Menschen – lebendige feurige Schwerter ihres Gottes, bereit, auf sein Zeichen hin auf die Ungläubigen hinabzufahren und Vernichtung zu bringen.
Ja, bald, bald war es endlich Zeit für die Rache.
FEHU – Vieh (Rune der Fruchtbarkeit und Heilung; Notbann-Rune)
Die Bürger unseres Landes werden ermahnt, während der Raunächte
keine Wäsche im Freien hängen zu lassen. Auf dass kein
Geist, der mit Odins wilder Schar durch die Nacht zieht, sich darin
einnistet und den Träger des Kleidungsstückes fortan besetzt!
(CHARTA GERMANIA)
Siegfried schaute auf die Uhr. In einer halben Stunde hatte er Schluss. Die letzte Gruppe der Bewerber, die er eben in Empfang genommen hatte, verließ die Halle in Richtung Schwebebus. Sie wurden in das zentrale Aufnahmelager im Zittauer Wald gebracht. Dort konnten sie sich entscheiden, zu welchem der germanischen Stämme sie wollten. Oder ihnen wurde einer zugewiesen, damit sie durch harte Arbeit, ein straffreies Leben und den Dienst an der Gesellschaft ihren Bewerberstatus gegen einen vollwertigen germanischen Bürgerstatus eintauschen konnten. Dann würden sie ihre Stammes-Runen tätowiert bekommen und wären ab sofort freie Germanen.
Ein Signal ertönte, Siegfried schaute zum Eingang, wo gleich eine Lücke im Feldschirm, der die Landesgrenze Neu Germaniens umschloss, geschaltet werden würde.
Nach einem kurzen Flackern erlosch ein Teil des Kraftfelds und eine Bewerberschar trat unsicher in die Halle. Diesmal waren auch zwei Kinder darunter. Selten kamen ganze Familien, um in Neu Germanien Asyl und Heim zu finden. Meist waren es alleinstehende junge Männer, die hier Bürger werden wollten.
Verschüchtert um sich blickend bewegten sich die zehn Personen auf die Schleuse zu, die Kinder pressten sich scheu an ihre Mütter. Nun trat der erste entschlossen vor und legte sein Handgepäck auf das Band. Die Tasche verschwand surrend im Scanner. Mit einem Piep kam sie auf der anderen Seite wieder heraus. Das grüne Leuchten eines Lämpchens verriet, dass sie „sauber“ war. Der Mann stand weiterhin still an der Schleuse und wartete die Durchleuchtung und den Scanvorgang geduldig ab. Als kurze Zeit später das nächste Lämpchen grün flimmerte, winkte Siegfried den Mann zu sich heran.
„Papiere bitte!“, sagte er und streckte die Hand aus.
Der Mann griff in seine Jackentasche und zog einen zerknitterten Pass heraus, er schob ihn zögernd durch den schmalen Schlitz in der Scheibe zu Siegfried hin. Der schlug den Pass auf und las laut vor.
„Antropow, Valerie, 27 Jahre, geboren in Kiew, Schwarzmeerkoalition, am 31. Januar 2259 alter europäischer Zeitrechnung.“
„Ja“, sagte der Mann.
„Was führt Sie zu uns, Herr Antropow?“
„Ich möschte Birger in dieses Land werden!“, erwiderte der Mann.
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