Majestätisch erhob sich eine riesige Eiche in der Mitte und breitete ihre Äste schützend über dem Podest zu ihren Füßen aus. Darauf stand ein hoher Lehnstuhl, der den provisorischen Thron für Swidger Rabenfeder bildete. Auf den Bänken zu seinen Seiten saßen Swanhild Rabenfeder, die Kräuterfrau des Rabenclans, und Weißbart Rabenzahn. Dessen Lehrlinge hockten vor ihm.
König, Zauberer und Hexe bildeten die Oberhäupter beim Thing, so war es gut, und so würde es bleiben, bis die Zeit der Götterdämmerung gekommen war, die Riesen gegen Asgard zogen, und die Welt neu erschaffen wurde.
Die Lichtung war voll von Menschen, die gespannt zur Eiche blickten und auf das erste Wort des Königs warteten.
Alle waren der Einladung gefolgt. Jede Sippe hatte ihre Vertreter geschickt – Raben, Drachen, Wölfe, Hirsche, Schlangen und so weiter und so weiter. Auch viele Bewerber, die in der Nähe wohnten, hatten sich eingefunden, und Mägde und freie Knechte.
Dicht an dicht standen sie und es floss ihnen in der Mittagskühle der Atem in Wölkchen von den Lippen.
Etwas abseits stand ein schwerer Panzer der Wölfe Wotans. Schwarz und unheildrohend schien das bewaffnete Ungetüm die Lichtung zu dominieren. Nur sein Hoheitszeichen, zwei goldene Wunjo-Runen, die sich in einem goldenen Rechteck kreuzen, milderten ein wenig diesen Eindruck. Drei Wölfe standen vor dem Fahrzeug. In schwarzer Uniform, Sturmhaube, Helm und Handschuhe bedeckten sie vollständig, sodass nur ihre Augen zu erkennen waren. Sie waren mit Kombiwaffe und Sax ausgerüstet.
Der Anblick konnte einem schon einen kalten Schauer über den Rücken jagen, aber wer sich bedroht fühlte, hatte wohl etwas zu verbergen. Denn diese Männer in Schwarz beschützten die Menschen in diesem Land und gaben lieber ihr Leben her, als einem Germanen nicht beizuspringen!
Jetzt erhob sich Swidger Rabenfeder von seinem Platz, sofort verstummte auch das letzte Gemurmel.
„Bürgerinnen und Bürger! Freie Germaninnen und Germanen! Bewerberinnen und Bewerber!
Ich, Swidger Rabenfeder, gewählter König der Sueben, grüße euch alle!
Wir haben uns heute hier an Odins Eiche versammelt, um ein Thing abzuhalten. Ich rufe Tyr, den Beschützer des Thing, um seinen Beistand an. Und verkünde hiermit den Thingfrieden. Es gibt zwei wichtige Dinge, die wir heute zusammen entscheiden müssen.
Doch bevor wir beginnen, bitte ich dich, Meister Weißbart Rabenzahn, wirf die Runen, um zu sehen, wie die Götter zu unserer Versammlung stehen!“
Rabenfeder nahm auf seinem Stuhl Platz und Meister Rabenzahn ließ sich von Steinar den Beutel mit den Runen reichen.
„Zwei Dinge, zwei Runen!“, rief er und griff mit geschlossenen Augen in den Beutel. Er wühlte mit seiner Hand darin herum und brachte schließlich seine geschlossene Faust wieder zum Vorschein. Meister Weißbart streckte den Arm nach vorn und öffnete seine Hand. Er blickte zu den Runensteinchen auf seiner Handfläche und ein Lächeln stahl sich in sein verrunzeltes Gesicht. Er erhob sich von der Bank und rief mit lauter Stimme:
„Gebo: Odin-Rune, Gabe, Geschenk, Treue und Gefolgschaft. Ansuz: Odin-Rune, Weisheit, Eingebung, Wissen und Offenbarung.
Die Götter sind uns wohlgesonnen, unsere Entscheidungen sind der Wille des Allvaters!“
Der Meister warf die Runensteine wieder in den Beutel und nahm Platz.
Swidger erhob sich erneut von seinem Thron.
„Sei bedankt, ehrwürdiger Meister Rabenzahn! Dank an Odin, der mit Wohlwollen vom Hlidskialf auf unser Thing herniederblickt!“ Er schlug sich mit der rechten Faust an die linke Brust und rief: „Odin, Odin, Odin!“
Die Menge folgte ihm und rief ebenfalls: „Odin, Odin, Odin!“
Swidger reckte den Arm in die Höhe und die Menge verstummte.
„Kommen wir zum ersten Punkt dieser Versammlung. Mikael Antropow, ich rufe dich nach vorn!“
Ein Raunen ging durch die Menge. Ein großer dunkelhaariger Mann bahnte sich den Weg nach vorn. Als er vor dem Podest angekommen war, neigte er sein Haupt.
„Hier bin ich, König Rabenfeder!“
König Swidger blickte den Mann vor ihm prüfend an und lächelte.
„Mikael Antropow! Vor fünf Jahren bist du zu uns gekommen, um dich für die Bürgerschaft in Neu Germanien zu bewerben, seitdem hast du bei der Familie Rabenfeder gearbeitet. Durch deine fleißige Arbeit, dein straffreies Leben und deine Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft hast du eindeutig bewiesen, dass du würdig bist, ein freier Germane zu sein.
Hiermit verkünde ich, König Swidger Rabenfeder, dass der Bewerber Mikael Antropow ab sofort den Status eines freien Germanen erhält!“
Die Lichtung hallte wider von Jubelrufen.
Swidger brachte die Menge mit einer Geste zur Ruhe.
„Mikael Antropow! Du kannst nun in eine Stadt gehen und dir dort Arbeit und Heim suchen, denn du bist ja sehr gebildet. Dann behältst du deinen alten Namen und bekommst die Tätowierung ‚freier stammesloser Bürger‘.
Oder du bleibst beim Stamm der Sueben, dann bekommst du einen germanischen Namen und deine Stammestätowierung. Du kannst eine eigene Familie gründen und dem Blut des germanischen Volkes deines hinzuzufügen.
Entscheide dich jetzt!“
Swidger Rabenfeder blickte den ehemaligen Bewerber erwartungsvoll an.
Mikael Antropow räusperte sich und hub dann an:
„Mein König, ich danke Euch! Gern wähle ich die zweite Option! Ich habe mich hier fünf Jahre sehr wohl gefühlt und, naja, hier auch mein Herz verloren. Ich möchte gern bei den Raben bleiben!“
„Dein Wille ist Odins Wille! Komm nach oben zu mir!“
Mikael stieg die paar Stufen zu Swidger empor und verbeugte sich.
König Rabenfeder griff hinter die Lehne seines Stuhles und zog ein hochbeiniges Wägelchen zu sich heran. Darauf stand ein silberner Kasten auf dünnen Beinchen. Er öffnete die Schnappverschlüsse und klappte den Deckel auf.
„Knie dich bitte hin, Mikael!“, sagte er zu Antropow.
Dieser ließ sich nieder und blickte dem König fest in die Augen.
Swidger zog einen zirka zwanzig Zentimeter langen, fünf Zentimeter dicken Stab aus dem Kasten und vollzog an ihm einige Einstellungen.
„Wende mir deine rechte Kopfseite zu. Es wird etwas schmerzen.“
Mikael Antropow wandte dem König den Kopf zu und dieser drückte das Ende des Stabes in seinen leeren Kreis auf der Schläfe. Er betätigte einen kleinen Knopf an der Seite, es zischte leise. Dünn kräuselte Rauch von der Schläfe, aber Antropow zuckte mit keiner Wimper. König Rabenfeder zog den Stab zurück und gab den Blick frei auf die Tätowierung: Othala und Gebo – Stammeszeichen der Sueben!
Swidger drehte den silbernen Kasten, sodass er zu Mikael geöffnet war.
„Lege deine rechte Hand auf die Fläche und blicke den blauen Punkt im Deckel an!“
Antropow tat wie ihm geheißen und sogleich wurden seine Fingerabdrücke gespeichert, ein Netzhautscan durchgeführt und ihm Blut abgenommen zum Extrahieren der DNS fürs Genregister. Fingerabdrücke und Netzhautmuster wanderten sofort in die Zentraldatenbank.
„Du hast es gleich überstanden!“, Rabenfeder lächelte zu Mikael, „wir müssen nur auf deinen Name warten!“
Es piepte leise, das Zeichen dafür, dass der Name eingetroffen war. Der König blickte auf die Anzeige und erhob seine Stimme:
„Erhebe dich, Meinulf Rabenauge! Möge die Rune Gebo recht behalten und du ein Geschenk für das gesamte germanische Volk sein! Komm nach dem Thing in mein Büro, wir besprechen dort alles Weitere!“
Meinulf Rabenauge erhob sich, neigte den Kopf vor Swidger und drehte sich der Menge zu.
„Odin, Odin, Odin!“
Die allgemeine Freude kannte keine Grenzen, der Jubel war gewaltig. Meinulf Rabenauge ging hinunter zu den Leuten, mit denen er gekommen war. Andere Bewerber klopften ihm auf die Schultern und freuten sich mit ihm.
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