Wuchs die weltweite Bekehrung von Heiden zum Christentum zunächst überwiegend dank Missionierung – die allerdings, wenn schon nicht so brutal wie bei den indigenen Völkern Lateinamerikas, nicht unbedingt zimperlich oder überall friedlich und ohne Blutvergießen erfolgte –, verhält es sich dagegen ganz anders im Islam. Wie bereits erwähnt, expandierte der Glaube Mohammeds im Mittelalter weltweit durch die arabische Besetzung und Unterwerfung der Bevölkerungen hauptsächlich in Afrika, Persien, großen Teilen Asiens und dem Nahen Osten, waren doch die Sarazenen die ertragreichsten Sklavenjäger, die die Europäer mit der Menschenware für ihre Kolonien belieferten. In Europa waren es Mauren, die bis zum Ende des 15. Jahrhunderts große Teile Spaniens und Portugals besetzt hielten. Osmanischen Eroberungstruppen gelang sogar der Vorstoß auf unseren Erdteil bis nach Wien, wo sie zweimal, im 16. und im 17. Jahrhundert, vergeblich einzudringen versuchten. Relikte dieser islamischen Expansionsbestrebungen sind im Balkan die bis heute verbliebenen muslimischen Gläubigen in Bosnien, Montenegro, Kosovo und Albanien sowie auf jenem kleinen Endzipfel des europäischen Kontinents, auf dem der westliche Teil des türkischen Istanbuls errichtet ist.
Rein historisch betrachtet entstand das Judentum schätzungsweise etwa um das Jahr 1500 v. Chr., obwohl sich bis heute die Historiker darüber streiten, wann genau Moses sein Volk aus der Sklaverei Ägyptens heraus zum Berg Sinai führte, wo sie die Zehn Gebote empfingen. Hinzu zählen 21 Jahrhunderte seit dem Wirken Jesu für das Christentum. Der Islam entstand dagegen erst anno 622 n. Chr. mit der Flucht Mohammeds aus Mekka. Mit 1.395 Jahren ist er also die jüngste der drei Konfessionen. Vergleicht man tentativ, wo sich das Christentum 14 Jahrhunderte nach seiner Entstehung befand, so könnte man räsonieren, dass die islamische Religion sich heute erst auf etwa dem Entwicklungsstand der damaligen Christianisierungskriege des Deutschen Ordens gegen Litauen befindet. Auch zu jener mittelalterlichen Epoche bestimmte ein zutiefst christlicher Glaube bei allen Ständen des Abendlandes (Könige und Adel wie auch beim Klerus und dem gemeinen Volk) deren alltägliches Leben.
Weit gefehlt ist allerdings die Auffassung, der Islam sei eine homogene Glaubensgemeinschaft. Analog zum Christentum zerfällt er doch in sehr unterschiedliche Glaubensrichtungen (hauptsächlich Sunniten und Schiiten, aber auch Aleviten, Wahhabiten, Yeziden, Ismailiten u. v. a.), die untereinander spinnefeind sind und sich seit dem Wiederaufleben des unseligen militanten Islamismus durch die Machtübernahme Irans anno 1979 seitens des schiitischen Ayatollah Chomeini samt Proklamierung seiner Islamischen Revolution aufs Blutigste bekämpfen. Im unbarmherzigen Stellvertreterkrieg in Jemen beschießen sich gegenwärtig das sunnitische Saudi-Arabien und der schiitische Iran mit gnadenlosen Bombardements und Raketen auf wehrlose Zivilisten. Aber nicht genug zu den eiskalten Serienmördern des selbst ernannten IS-Kalifats, Talibans und Al Queida: Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht vor den Moscheen der rivalisierenden Glaubensrichtungen Autobomben explodieren oder Selbstmörder sich sogar innerhalb der Gebetshäuser in die Luft sprengen und Hunderte von Betenden mit in den Tod reißen.
Die in diesem Roman geschilderten Geschehnisse sowie sämtliche darin vorkommende Namen und Positionen sind fiktiv und von mir frei erfunden. Etwaige Übereinstimmungen mit real existierenden Personen oder Begebenheiten sind rein zufällig. Dennoch, so glaube ich, würde heute kein Richter bei objektiver Betrachtung und beim besten Willen Lessings ›drei Ringe‹ als identisch rechtsprechen. Zu groß sind die Unterschiede, die sie kennzeichnen, obwohl ihr Ursprung doch dieselbe Quelle ist: jenes religiöse Gedankengut, das Moses im Hause des Pharaos Ramses II., in dem er aufwuchs, prägte und das er seiner Gefolgschaft am Berg Sinai verkündete. Hindern sollte uns all dies allerdings nicht daran, jedem die Freiheit zur Ausübung seines Glaubens zu lassen, sofern er dies für sich tut und – ohne Einschränkungen – Andersgläubigen stets die gleichen Rechte zubilligt. Dies kann allerdings nicht bedeuten, dass hierbei etwaige in unserem Rechtsstaat verbotene Handlungen und Sitten aus religiöser Motivation begangen werden. Auch bei uns gilt die alte Weisheit: ›Bist du in Rom, tu’ wie die Römer‹.
Manfred Eisner, im Sommer 2018
1. Rätselhafter Cold Case
»Ich denke, wir haben hier wieder einen interessanten Fall, der mich besonders bewegt und dem wir uns widmen sollten!« Kriminalhauptkommissarin Nili Masal hält einen Aktendeckel hoch, um die Aufmerksamkeit der Mitarbeiter ihres Teams Sonderermittlungen des Kieler LKA auf sich zu lenken. Robert Zander, Margrit Förster und Ferdinand Csmarits blicken von ihren Bildschirmen zu ihrer Teamleiterin auf.
»Was haben Sie da wieder einmal aus dem Stapel der Cold Cases ausgegraben, Nili?«, fragt Robert. Jeder von ihnen hat auf seinem Schreibtisch einen Aktenstoß von jenen etwa einhundertachtzig ›erkalteten‹ Kriminalfällen, die im Land Schleswig-Holstein aus welchen Gründen auch immer bisher nicht abgeschlossen werden konnten. Ungelöste Fälle bleiben beim LKA so lange bestehen, bis man begründet davon ausgehen kann, dass sämtliche darin involvierte Akteure nicht mehr am Leben sind. Erst dann dürfen sie endgültig geschlossen und ad acta gelegt werden.
»Es handelt sich um ein aufsehenerregendes, weil auch doppeltes Tötungsdelikt, das sich vor etwa eineinhalb Jahren in Glückstadt ereignete. Man fand die beiden Toten in einem älteren Renault Mégane mit belgischem Kennzeichen, der wohl in der Nacht zuvor unbemerkt am Parkplatz der Elbfähre nach Wischhafen abgestellt worden war. Auf dem Fahrersitz befand sich die Leiche eines jungen Mannes, der sich anscheinend mit einem Kopfschuss selbst getötet hatte und dem anschließend die Tötungswaffe aus der Hand gefallen war, die sich übrigens auf dem Beifahrersitz befand. Ein gewisser Ole Harms, Inhaber des dortigen Imbiss, entdeckte den Wagen mit dem Toten, als er um fünf Uhr in der Früh hinfuhr, um zu öffnen, und seinen Pkw direkt daneben abstellte. Er rief sofort die Glückstädter Kollegen. Es waren – lasst mich mal sehen – der Polizeistationsleiter Sönke Jürgens mit seinen Leuten Elke Brodersen und Frank Nissen, die zum Fundort gelangten und den Wagen untersuchten. Dabei fanden sie im Kofferraum die zweite, eine halb nackte weibliche Leiche. Diese war allerdings mit einem großen Messer, das ihr noch tief in der Brust steckte, getötet worden. An beiden Händen fehlten ihr die Finger und die Daumen, und das entstellte Gesicht trug deutliche Spuren einer brutalen Misshandlung. Diese wurden ihr offensichtlich vor dem Tötungsakt zugefügt.« Nili macht eine Pause. Ihre Kollegen sind von ihrem Vortrag regelrecht ergriffen.
»Ganz schö happig!«, entfährt es Fachinspektor Ferdl Csmarits, der aus dem österreichischen Burgenland stammt und der Abteilung im Rahmen des Europol-Fach-Austauschprogramms zugeordnet ist und sich als Erster dazu äußert.
»Da der Fall bis heute nicht gelöst werden konnte, darf ich wohl davon ausgehen, dass die Tat als eine Selbsttötung des Mannes inszeniert wurde, der vorher die Frau bestialisch mutiliert und erstochen hat, um sich dann selbst zu richten. Ich vermute auch, dass der Fundort nicht der Tatort gewesen sein kann«, bemerkt Kriminalkommissar Zander.
»Und wieso der belgische Wagen?«, argwöhnt seine gleichrangige Kollegin Margrit Förster. »Wie passt der ins Bild?«
»Könnt ma net a bisserl mehr erfahr’n?«, will Ferdl wissen.
»Ihr habt alle richtig vermutet«, fasst Nili zusammen, »der Fall ist viel komplizierter, als er sich auf den ersten Blick darstellt. Ich habe für euch die umfangreiche Akte scannen lassen. Ihr findet sie auf euren Bildschirmen unter dem Kennwort ›Doppelmord in Glückstadt‹. Ich denke, es ist am besten, wenn jeder von euch den Fall zunächst einmal von vorn bis hinten durcharbeitet. Weisungsgemäß gehe ich jetzt erst einmal mit unserem direkten Vorgesetzten Walter Mohr zum Chef, um den Doppelmord als unseren nächsten Bearbeitungsfall zu melden und sein Einverständnis einzuholen. Ich habe mir da einige Punkte notiert, die uns weiterführen könnten. Wir sprechen uns nach der Mittagspause wieder, okay?«
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