Aus einer solchen misslichen Lage gibt es eigentlich nur einen konsequenten Ausweg: den Partner anzuzeigen und sich schleunigst von ihm zu trennen. In – viel zu – vielen Fällen tun es die Leidtragenden jedoch nicht. »Ich liebe ihn/sie doch, er/sie hat es nicht so gemeint, liebt mich doch auch, hat sich dafür entschuldigt und mir heilig versprochen, damit aufzuhören!«, sind die in den meisten Fällen angeführten Ausreden des betroffenen Partners und dessen fadenscheiniger Grund, von diesem einzig folgerichtigen Schritt zurückzuschrecken. Bis es dann – erfahrungsgemäß – dennoch wieder und immer wieder vorkommt. Zahlreiche Fallstudien über häusliche Gewalt in den Beziehungen zwischen hetero- sowie homosexuellen Lebenspartnern belegen, dass der Mensch im Grunde seine animalischen Instinkte nur durch eine angepasste Erziehungsweise zur Gewaltlosigkeit im Zaum zu halten vermag. Geraten solche Charaktereigenschaften wie zum Beispiel Angst, Wut, Gier, ungebremstes Sexverlangen oder Eifersucht – nicht zuletzt verbunden mit Alkohol- oder sogar Drogenkonsum – außer Rand und Band, agieren er oder sie gemäß solchen ungebremsten Ur-Verhaltensweisen.
Die in diesem Roman geschilderten Geschehnisse sowie sämtliche darin vorkommende Namen und Positionen sind fiktiv und von mir frei erfunden. Eine etwaige Übereinstimmung mit real existierenden Personen oder Begebenheiten wäre rein zufällig. Ich greife dieses Thema auf Anregung einer lieben Schriftstellerkollegin auf, weil wir beide der Meinung sind, dass dieser schändliche Makel unserer Gesellschaft nicht oft genug angeprangert werden kann. Jedenfalls betrachte ich es heute deshalb als durchaus angebracht, dass wir den § 223 in unserem Strafgesetzbuch haben, um solche verachtungswürdigen Verhaltensabgründe zu ahnden.
Manfred Eisner, im Winter 2018
»Mira! Komm!«
Doktor Knut Treibert, ein athletisch anmutender und hellblonder Mann Mitte dreißig, ruft seiner Jagdhündin hinterher, die plötzlich wie ein Blitz losgepirscht und im Walddickicht verschwunden ist, bevor der Jäger sie zurückhalten konnte. Zur Bekräftigung des Befehls bläst er einen kurzen Doppelpfiff auf der Signalpfeife, die an einer Kordel um seinen Hals hängt. Der tüchtige Zahnarzt mit der gut gehenden Praxis in der Kieler Innenstadt hat das eigene Jagdrevier des vor Kurzem verstorbenen Vaters geerbt beziehungsweise die dazugepachteten Flächen, die an seine eigene etwa einhundertzwanzig Hektar große Länderei angrenzen, mit übernommen. Dichter Mischwald alterniert hier und dort mit weiten Ackerflächen, auf denen bereits der erste knallgelbe Raps mit betörendem Duft blüht oder Winterweizen und Gerste für dieses Jahr kräftiges Wachstum andeuten. Der Doktor lauscht in den Wald hinein: Nur das Rauschen des Windes im hellgrünen Frühlingslaub ist zu vernehmen. Dann hört er in einiger Entfernung das vertraute, jedoch wütende Gebell seiner rotgoldenen Magyar-Vizla-Vorsteherhündin, die ihm damit signalisiert, eine Beute ausfindig gemacht zu haben. Der Jäger ist etwas verwundert, war er doch eigentlich auf dem Wege zu seinem Hochsitz, denn ab dem 1. Mai ist die Jagdsaison auf Rehböcke eröffnet. Lautes Rauschen unterbricht die Stille, zwei jüngere Bachen huschen, weil offensichtlich von Miras Erscheinen aufgescheucht, in wildem Galopp an ihm vorbei.
Während er in die Richtung eilt, aus der er Miras Bellen ausmacht, mutmaßt Treibert, ob es sich vielleicht um ein von benachbarten Jägern angeschossenes Tier handeln könne, das sich verwundet in sein Revier verkrochen hat.
»Halt, Mira! Und down!«, befiehlt er und pfeift einen längeren Triller hinterher. Als er zu der Stelle gelangt, an der die Hündin mit hechelnder Zunge brav dem Befehl folgend vor einer offensichtlich frisch gegrabenen leichten Erderhöhung im Waldboden liegt, lobt er sie mit wiederholten Streicheleinheiten und legt sie an die Leine, um sie einige Meter von der makabren Fundstelle zurückzuziehen. Längst hat er mit Schrecken die blutigen Überreste eines menschlichen Arms entdeckt, der seitlich aus dem Tumulus herausragt. Die Wildsauen hatten offensichtlich kurz zuvor die Stelle aufgespürt und sich bereits daran zu schaffen gemacht, als sie dabei von Mira gestört und verjagt wurden.
Der Zahnarzt zieht sein Smartphone aus der Tasche und geht einige Schritte weiter bis zu einer nahe gelegenen Lichtung, an der endlich ein Empfangssignalstrich auf dem Display erscheint. Er tippt auf die App, mit der er das GPS aktiviert, und stellt die genaue Ortung fest. Dann wählt er die 110.
*
Ein langer Abend steht an diesem Freitag Kriminalhauptkommissarin Nili Masal, ihres Zeichens Leiterin des vierköpfigen Teams für Sonderermittlungen im Kieler LKA, und ihrem direkten Vorgesetzten und Lebensgefährten, dem Ersten Kriminalhauptkommissar Walter Mohr, bevor: der festliche Empfang, mit dem Nilis Freundin Dr. jur. Kathja Harmsen, Tochter des Oberstaatsanwalts Hinrich Harmsen, ihren frisch erworbenen Doktorhut in den urigen Räumen der ›Hafenwirtschaft‹ in der Kieler Kanalstraße feiert. Die geräumige Gastwirtschaft bietet just genügend Raum für die zahlreichen geladenen Gäste. Kitt, wie sie im vertrauten Umfeld genannt wird, ist die einzige Tochter des prominenten Juristen und stolzen Vaters, der zusammen mit seiner Ehefrau Hannelore und ihr selbst die nach und nach eintreffenden Ankommenden begrüßt. Dabei handelt es sich neben Familienmitgliedern und engen Freunden naturgemäß um zahlreiche VIPs sowie namhafte Persönlichkeiten aus juristischen, polizeilichen und gesellschaftlichen Kreisen. Nach dem Empfangscocktail nehmen alle Anwesenden an ihren Tischen Platz und Kitts ebenso ehrsinniger Doktorvater, Prof. Dr. Joachim Traube – neben seiner Professur an der juristischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel auch Erster Vorsitzender der von ihm ins Leben gerufenen ›No-to-Drugs e.V.‹ Drogenbekämpfungsvereinigung – hält die Laudatio auf seine Doktorandin.
Es folgt eine Rede des Zweiten Vorsitzenden des Vereins, Diplom-Betriebswirt und Steuerberater Heinz Westphal, der die besondere Bedeutung von Dr. jur. Kathja Harmsens Erkenntnissen für die Bekämpfung der illegalen Einfuhr und Einschleusung der Kokaindroge in Europa würdigt und erklärt, dass sein Verein sehr stolz sei, Kitts Forschungsreise maßgeblich mitfinanziert zu haben.
Nili hatte vor mehr als einem Jahr die angehende Juristin als beschützende Weggefährtin auf ihre Forschungsreisen begleitet. Ziel war es zu recherchieren, auf welchen verschlungenen Wegen die Droge Kokain von ihren Ursprungsländern Kolumbien, Peru und Bolivien bis zu uns nach Europa gelangt. Aufgrund der ihnen gemeinsam widerfahrenen und teilweise risikoreichen Erlebnisse war zwischen den beiden jungen Frauen eine wahre Freundschaft entstanden. Nili wurde zudem zur maßgeblichen Mitakteurin an der daraus entstandenen Doktorarbeit 2und deswegen in Kitts Dankesrede als Ehrengast begrüßt und gebührend gewürdigt.
Nachdem der als Vorspeise gereichte schmackhafte Büsumer Krabbencocktail von den Gästen genüsslich konsumiert worden ist, ergreift Nili das Wort und bedankt sich für die nette Eloge ihrer Freundin. Dann kündigt sie eine kleine Überraschung an. Die Lichter im Salon werden gedimmt, eine große Leinwand fährt von der Decke herab und ein starker Beamer projiziert die Grüße und Glückwünsche der damaligen Unterstützer aus den nahen und fernen Ländern, die diese Kitt zum besonderen Anlass gesendet haben. Die Gratulationen, die neben Deutsch teilweise auch auf Flämisch, Französisch, Englisch und Spanisch formuliert sind, hat Nili übersetzt und mit der Hilfe ihres ehemaligen Oldenmoorer Vorgesetzten und begabten Videohobbyisten Boie Hansen als Lauftexte eingebracht. So erscheinen jetzt nacheinander in Wort und Bild auf der Leinwand jene wackeren Polizeibeamten und Helfer aus Antwerpen, Rotterdam, Las Palmas de Gran Canaria, Bogotá, Lima und La Paz, mit denen sie teilweise sehr spannende Episoden durchlebt haben. Sie übermitteln ihre allerherzlichsten Grüße sowie beste Wünsche für Kitts bevorstehende Juristenkarriere. Sehr geschickt hat der routinierte Polizeihauptkommissar zwischen den Texten einige der Clips mit den markantesten Episoden des Abenteuers eingeblendet, und so erhalten die Gäste einen guten Einblick in die teilweise sehr risikoreiche Expedition der beiden jungen Frauen. Besonders aufschlussreich sind die Aufnahmen von den ideenreichen Verstecken, mit denen die Drogenschmuggler ihr schändliches Gewerbe betreiben, zumal sie stets bestrebt sind, das verhängnisvolle Kokaingift in Europa einzuschleusen. Spannend ebenso die nimmer enden wollende Jagd auf illegale Plantagen des Cocastrauchs und die primitiven Labors im undurchdringlichen Dschungel, in denen der Blättersaft in eine todbringende Droge verwandelt wird. Nicht zuletzt werden kurze Szenen von ihrer Geiselnahme durch die FARC-Rebellen eingeblendet, ebenso Ansichten, die sie während der Gefangenschaft in dem in der kolumbianischen Wildnis gut getarnten Guerillacamp zeigen. Trotz der Gefahr, in der sie sich befanden, konnten sie diese Szenen mit ihrer verdeckten Minikamera drehen. Die etwa zwanzigminütige Vorführung wird mit großem Interesse verfolgt und viel Applaus belohnt. Die Lichter gehen wieder an.
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