Die Intuition sagt dem Menschen, dass all das Negative, das Mangelhafte, das Böse nur die eine Seite des Lebens sein kann, und dass all das, was ihm widerfahren ist, nicht in Ordnung ist, und dass es so nicht sein sollte. Angesichts dieser Erfahrung dieses Nicht-sein-Sollenden beginnt die Suche nach dem Darüber-Hinaus. Das Enttäuscht-Werden, das Zerbrechliche, der Schmerz und das Leid kann doch nicht alles gewesen sein. Da muss es doch noch etwas ganz anderes geben. Vielleicht wird später einmal alles anders, im Jenseits, drüben, nach dem Tod. So ist manch religiöser Glaube entstanden. Aber das hilft zunächst nichts für das Leben, diese Vertröstung auf das Jenseits. Damit macht man es sich zu leicht. Dennoch bleibt etwas Richtiges daran. Die Erkenntnis, dass die Welt ungerecht ist weist darauf hin, dass es so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit geben muss (wie immer sie aussieht).
Nicht wenige religiöse Vorstellungen funktionieren so, dass man den Menschen auf die Zeit nach dem Tod vertröstet. Der Schurke und der Verbrecher können doch nicht ungestraft davonkommen, und der „Gute“ muss doch belohnt werden. Das innerweltliche Gutsein lohnt sich ja oft nicht, der Böse und der Rücksichtslose kommen viel besser durchs Leben, der Gute hat oft das Nachsehen. Dieses Ungleichgewicht muss irgendwie ausgeglichen werden, dass es dem Guten dann im Jenseits besser geht und der Böse bestraft wird. Sicher ist daran etwas Richtiges, aber es muss differenziert werden.
Schon im Judentum ging es um Fragen der (ausgleichenden) Gerechtigkeit, und auch im Christentum wird danach gefragt, ob nach dem Tod ein Ausgleich für das irdische Leben stattfindet. Der Blick ins Jenseits ist verständlich, aber er birgt die Gefahr, dass man sich in dieser Welt nicht um die Gerechtigkeit und das Gute kümmert. Der Mensch wird auf das Jenseits vertröstet, aber es geht zunächst um das Leben in dieser Welt. Selbst wenn es kein Leben nach diesem Tod geben sollte, bleibt die Suche des Menschen nach dem Guten bestehen. Ob es das Gute gibt, kann er zunächst nur aus seinen innerweltlichen Erfahrungen heraus beurteilen. Er kann in all dem innerweltlich Schlechten das Gute finden, in all dem Vertrauen-Brechenden auch das Vertrauen-Schenkende.
Es gibt offensichtlich auch dieses Gute und Vertrauen-Schenkende, es gibt Menschen, die es verkörpern, aber es ist oft leise und leicht zu übersehen. Und es gibt dieses Gute indirekt als den Aufschrei gegen das Böse, Schlechte, Verräterische, Vertrauen-Brechende. Innerweltlich wird es allerdings immer endlich bleiben. Es bleibt die Frage, ob es in all dem innerweltlich Guten einen Hinweis gibt auf das Gute an sich – und was dieses Gute an sich sein könnte. Die Suche nach dem Absoluten bleibt.
6. Das Absolute – Was ist das?
Fragen nach dem Absoluten können philosophisch und theologisch beantwortet werden. Die philosophische Frage könnte lauten: Wie finde ich im Relativen des Lebens so etwas wie das Absolute. Geht das überhaupt, dass man im Relativen das Absolute findet? Zwei Zugänge wurden schon beschrieben. Der erste war der, dass der Geist des Menschen immer schon auf das Absolute ausgerichtet ist, da der Mensch das Endliche nur dann als endlich erkennen kann, wenn er schon im Raum des Absoluten steht. Sonst könnte er das Relative nicht als relativ erkennen. Der zweite war der, dass der Mensch angesichts des Schlechten, Bösen und Ungerechten implizit eine Ahnung hat, dass es doch das Gute und Gerechte geben müsste. Und drittens zeigt sich gerade angesichts dieser Ahnung etwas über die Struktur der Welt.
Denn diese Welt ist asymmetrisch gebaut: Die Lüge ist die Abweichung von der Wahrheit, und nicht umgekehrt. Das Unglück ist die Abweichung vom Glück, die Ungerechtigkeit ist die Abweichung von der Gerechtigkeit, und nicht umgekehrt. Ohne dass der Mensch genau wissen muss, was die Wahrheit, was das Glück oder was die Gerechtigkeit ist, nimmt er doch unbewusst am Positiven Maß, um sich zu orientieren. Er bezeichnet das Positive als Wahrheit und den Mangel als Lüge, er ist auf der Suche nach dem Glück und erkennt vor diesem Hintergrund sein Unglück. Er empfindet etwas als ungerecht, und das kann er nur, weil er eine Ahnung von Gerechtigkeit hat. Ohne das implizite Maßnehmen am Positiven kann der Mensch sich in der Welt nicht zurechtfinden. Er kann nicht von Lüge zu Lüge und vom Bösen zum Bösen fortschreiten. Natürlich gibt es das leider in der Welt, aber jeder sieht sofort ein, dass es so nicht sein sollte. Daher ist das Böse als Mangel an Gutem beschrieben worden. (Thomas von Aquin) Man müsste es wohl noch zuspitzen: Das Böse ist das pervertierte Gute, es kommt oft unter dem Anschein des Guten, verdreht die Dinge, zieht seine Kraft aus dem Guten und wendet sich gegen den Menschen. Daher ist es so bedrohlich und zerstörerisch.
Letztlich ist in allem Endlichen und Falschen doch das Richtige und Absolute still und unbemerkt implizit anwesend. Es ist irgendwie da, man kann es aber nicht genau fassen. Man kann sekundär darauf reflektieren, dass es die Gegenwart und Anwesenheit eines unausgesprochenen Horizontes ist, der in all den Bewertungen, die der Mensch vornimmt, gegenwärtig ist. So hat das Absolute auch einen Hang zum Bleibenden. Der Mensch möchte den Moment des größten Glückes festhalten. Er weiß, dass es wieder vergeht, aber er möchte es festhalten, er möchte, dass es bleibt, am liebsten ewig: „Möcht ich zum Augenblicke sagen, verweile doch, du bist so schön“, heißt es bei Goethe; und bei Friedrich Nietzsche: „Alle Lust will Ewigkeit.“
Das Absolute will Ewigkeit, der Mensch findet immer wieder ein Stück Ewigkeit in der Zeit, das Absolute weist hin auf diese Ewigkeit, es ist eine Art Zeitlosigkeit und Raumlosigkeit. Es ist einfach da, still und unbemerkt, implizit in den Dingen und im Relativen. Es ist anwesend und da, scheu und zerbrechlich, geradezu verborgen und hilflos, aber es ist da. Und es ist anders da als ein Baum oder ein Mensch. So ist das Absolute zunächst in den Phänomenen versteckt „da“ und man muss es eigens ans Licht holen, um es zu erkennen. Es ist still und unaufdringlich. Man muss sich ihm ausdrücklich zuwenden.
Neben der Suche nach dem Absoluten in den Dingen hat der Mensch auch immer gesucht nach dem Absoluten hinter dieser Welt, hinter den sichtbaren Dingen oder jenseits des Todes. Es kann die Vorstellung sein, dass in der Welt Kräfte wirken, die der Mensch nicht erklären kann. Es könnten Engel und Dämonen am Werk sein, Schicksalsmächte und Dunkles, vielleicht auch ein guter Gott. Es kann die Vorstellung einer ausgleichenden Gerechtigkeit im Jenseits sein, die Auffassung von der Unsterblichkeit der Seele, jene von der Auferstehung von den Toten oder vom Paradies, es kann die Auffassung von Wiedergeburt oder Reinkarnation sein. All dies sind Vorstellungen, die über das Innerweltliche und den Tod hinausgehen, sind der Blick ins Unendliche und absolute Sein. Offensichtlich liegt im Menschen und in den Dingen dieses Streben nach dem „Darüber hinaus“.
So stellt sich die Frage nach dem Finden des Absoluten in den Dingen und nach dem Finden des Absoluten jenseits von den Dingen. Die Suche nach dem Absoluten in den Dingen ist dem Menschen indirekt möglich (das Absolute im Relativen, das Unsichtbare im Sichtbaren, das Unendliche im Endlichen, das Gute im Bösen), die Suche nach dem Absoluten, das explizit als Grund der Welt in dieser Welt auftritt, kann der Mensch zwar unternehmen, aber er wird keine endgültigen Antworten bekommen. Es ist die Frage, wie der Mensch „wissen“ kann, ob es dieses Absolute hinter allem und als Grund von allem geben kann, ob da etwas Größeres ist oder nicht vielmehr nichts.
Die Frage ist auf einen ersten Blick nicht schwer zu beantworten: Denn das, was den Menschen und seine Erkenntnis übersteigt, kann er zunächst nicht wissen. Das ist ja genau das Problem, dass er etwas erahnt von einer anderen Dimension, die er nicht ausdrücklich erkennen kann. Er sehnt sich nach etwas ganz Anderem, von dem er nicht weiß, ob es das gibt. Wie aber bekommt er Zugang zu dem, was er nicht kennt und von dem er nicht genau weiß, ob es das gibt? Dieses „Jenseitige“ übersteigt die Erkenntnisfähigkeit des Menschen, da es ja gerade mehr sein soll als all das, was der Mensch aus sich heraus in dieser endlichen Welt erfassen kann. Hier gibt es wohl nur eine einzige Lösung: dass dieses Jenseitige sich von sich aus zeigen muss, dass es in Erscheinung treten muss. Es muss sich von sich her zeigen, sonst kann der Mensch nicht wissen, ob es das gibt. Anders gefragt: Gibt es neben der Erscheinungsweise des Absoluten in den Phänomenen auch noch eine ganz andere Erscheinung des Absoluten im Relativen, die sich explizit zeigt und aus der Verborgenheit hervortritt? Kann der letzte Grund von allem sich ausdrücklich in dieser Welt zeigen? Bevor auf diese Frage eingegangen wird, sollen noch andere Fragen des Menschen auf der Suche nach dem Absoluten und dem Unerklärlichen behandelt werden.
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