Jeder Mensch verdankt sich anderen, er steht auf den Schultern derer, die vor ihm waren und ohne die er nicht auf der Welt wäre. Wer nicht zurückschaut, wer sich um die Wurzel seiner Existenz nicht kümmert, wer so tut, als wäre er ewig aus dem Nichts gekommen oder gar das Produkt seiner selbst, wird im tiefsten Sinn des Wortes „rücksichts-los“. Der Blick zurück ist eine der drei Grundrichtungen menschlichen Daseins. In diesem Blick zurück ist das „Danken“, das bewusste „Daran-Denken“ (aus diesem Wort hat sich das deutsche Wort „danken“ entwickelt) die eine der drei Grundmelodien des Menschen, wenn er seinen Mund auftut und artikuliert, was in ihm vor sich geht. Die zweite Grundrichtung menschlichen Daseins ist der Blick nach vorne und die daraus resultierende Grundmelodie die Bitte. Menschsein heißt zu wissen, dass wir aufeinander angewiesen bleiben. Niemand kann sagen, was morgen sein wird, was von seinen Wünschen und Vorsätzen in Erfüllung geht. Wer glaubt, alles selbst leisten und niemanden um etwas „bitten“ zu müssen, wer das Vertrauen nicht kennt, anderen etwas überantworten zu können, weiß nichts von einem großen Teil der Schönheit des Lebens. Ein armer Teufel, wer das „Bitten“ verlernt hat und schließlich stattdessen eine Versicherung abschließt. Schon seit Jahren stelle ich mir die Frage, was ich eigentlich versichere, wenn ich in der momentan so eklatant unsicheren weltwirtschaftlichen Gesamtlage eine „Lebensversicherung“ abschließe. Was versichern uns Versicherungen? Je unsicherer die Wirtschaftslage, desto höher die Versicherungssumme. Im Grunde versichern wir unsere eigene Verunsicherung und auf diese schließen wir dann noch eine sogenannte „Rückversicherung“ ab.
Die dritte Grundrichtung menschlichen Daseins ist der Blick „nach oben“. Die daraus resultierende Grundmelodie sind Jauchzen vor Freude, Singen, Tanzen und Springen, „Außer-sich-Sein“.
Ihren Gipfel erreicht diese dritte Grundmelodie, wenn es einem Menschen die Sprache verschlägt, wenn er mit offenem Mund und wie angewurzelt vergebens ums Wort ringt und staunt. Wer staunt, gerät nicht in Gefahr, sich mit Gott zu verwechseln. Ihm fehlen die Worte, sein Mund bleibt offen, staunen nur kann er und staunend sich freuen …
Was mich in meiner Zeit als Seelsorger bei Gottesdiensten immer wieder besonders beeindruckt hat, waren beim Austeilen der Kommunion mir entgegengestreckte, offene, von schwerer Arbeit gezeichnete Hände.
„Ora et labora“ (bete und arbeite!): Mit diesen drei Worten bringt es die Ordensregel des Benedikt von Nursia auf den Punkt. Die von Ignatius von Loyola rund tausend Jahre später daraus abgeleitete, geradezu tiefenpsychologisch relevante Formel lautet: „ Bete, als hinge alles von dir ab, handle, als hinge alles von Gott ab!“ Dieses Leitmotiv des Ignatius wird oft falsch zitiert, ist dadurch dann zwar leichter nachvollziehbar, bleibt aber weit hinter dem Kern der ursprünglichen Aussage zurück und klingt im Vergleich dazu banal: „Bete, als hinge alles von Gott ab, handle, als hinge alles von dir ab!“ Im Grunde lässt sich das auch mit einem anderen geflügelten Wort zum Ausdruck bringen: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“ Ignatius aber wollte „mehr“, und dieses „magis“ besteht für ihn nicht darin, mehr zu tun, sondern darin, bei den vielen Angeboten und Möglichkeiten die richtige Entscheidung zu treffen. Denn, so sagt er, man hätte es ja nicht einfach damit zu tun, zwischen „gut“ und „schlecht“ zu unterscheiden, sondern zwischen dem einen Guten und dem anderen. Wie oft würden wir am liebsten beides tun! In solchen Situationen der Unsicherheit entdeckt Ignatius „magis“ als Entscheidungshilfe. In seinem „Exerzitienbüchlein“1, das ich (obwohl dafür von vielen Psychotherapeuten milde belächelt) für ein psychokriminologisches Meisterwerk halte, entwickelt er eine Methode, in Lebensentscheidungsfragen, an wichtigen Wegkreuzungen des eigenen Lebens sich einem dreißigtätigen Nachdenkprozess auszusetzen, um auf dieser Basis die zentralen Fragen des Lebens nicht durch „Vielwissen“ , sondern durch das „Verkosten der Dinge von innen her“2 zu beantworten.
Beten und Arbeiten erscheinen so betrachtet als die beiden Grundhaltungen eines Menschen. Durch Kontemplation und Aktion, kraft seiner geistigen und körperlichen Arbeit bleibt er so auf der Suche nach seinen unverwechselbaren Weltmitgestaltungsmöglichkeiten. Bei all seinen persönlichen Begabungen vergisst er aber nicht, dass diese ihm zuallererst geschenkt sind. Darum schreibt Paulus den Korinthern: „So soll keiner sich wichtigmachen für den einen und gegen den anderen. Denn wer gibt dir Vorrang? Was hast du, das du nicht empfangen hättest? Wenn du es aber empfangen hast, warum rühmst du dich, als hättest du nicht empfangen?“ (1 Kor 4, 6 – 7 in der Übersetzung von Fridolin Stier)
Blau ist meine Lieblingsfarbe. Sie bewirkt von allen Farbempfindungen die tiefste Beruhigung. Experimente beweisen, dass bei längerem Betrachten von Dunkelblau die Atmung langsamer wird, der Puls abnimmt und der Blutdruck sinkt. Wassily Kandinsky hat das Blau als „ konzentrische Bewegung“ beschrieben und gemeint, dass diese Farbe vom Mitmenschen weg ins eigene Zentrum führe. In allen Ländern Westeuropas, ja sogar der gesamten westlichen Welt ist die Farbe Blau seit mehreren Jahrzehnten die am häufigsten getragene Modefarbe. Sie wird es vermutlich noch lange bleiben, meint Michel Pastoureau, dessen Buch „Blau. Die Geschichte einer Farbe“ 2013 in deutscher Sprache erschienen ist.3 Der Himmel und das Meer, die tiefsten unserer Betrachtung zugänglichen Räume, erscheinen uns blau. Das macht Blau auch zur Farbe des Fernwehs. So wird „blau“ auch oft gebraucht, um etwas Fernes, Unbestimmtes zu bezeichnen. „Ins Blaue hineinreden“, sagen wir, und meinen damit „ohne jeden Plan und Zweck“. In unserer Sprache kennen wir „eine Fahrt ins Blaue“ und vor allem den Wunsch, einmal „blau“ zu machen und nicht zu arbeiten. Andererseits verwenden wir die blaue Farbe aber auch, um Ausreden und Lügenmärchen zu umschreiben: Schon im 16. Jahrhundert war von „blauen Argumenten“ die Rede. Heute sagen wir dazu, dass einer „das Blaue vom Himmel herunterlügt“ oder aber, dass einer den anderen anlügt, „dass er blau wird“. Wenn der Briefträger einen „blauen“ Brief bringt, bedeutet das meistens nichts Gutes, ebenso, wenn einer „vom blauen Affen gebissen“ wird. Positiv besetzt hingegen ist das Himmelblau als Gegensatz zum Alltagsgrau.
In unserem Wortschatz ist „blau“ zu einem Zauberwort geworden, zu einem Begriff, der verführt, der beruhigt, der zum Träumen einlädt. Der Klang des Wortes allein schon ist schön, sanft, angenehm, fließend. Wir denken dabei ans Meer, den Himmel, Erholung, Liebe, Reisen, Urlaub und Unendlichkeit. Und das gleich in mehreren Sprachen: bleu, blue, blu, blau – überall klingt es poetisch und beruhigend … Eine der wesentlichen Eigenschaften der Farbe Blau liegt darin, dass sie ruhig ist und kein Aufsehen erregt, friedlich, fast neutral erscheint. In der Romantik regt sie zum Träumen an, heute ist die Farbe an Krankenhauswänden und als Bluebox im Fernsehen beliebt. Blau ist nicht lästig, verstößt gegen nichts, vermittelt Sicherheit und verbindet. Viele große internationale Organisationen haben gerade deshalb die Farbe Blau als ihre Farbe gewählt: die UNO zum Beispiel, die UNESCO, der Europarat und die Europäische Union. Die Farbe Blau wurde so nach und nach zu einer internationalen Farbe mit dem Auftrag, den Frieden und das Verständnis unter den Völkern zu fördern.
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Am 11. November 308 findet in Carnuntum unter der Leitung von Diokletian die sogenannte „Kaiserkonferenz“ statt. Die dabei neu aufgeteilten Machtverhältnisse im Römischen Reich etablieren eine Viererherrschaft („Tetrarchie“) mit Galerius als Augustus und mit Maximinus als Caesar im Osten sowie mit Licinius als Augustus und Konstantin als Caesar im Westen. Zweieinhalb Jahre später, am 30. April 311, erlässt Galerius das „Toleranzedikt von Nikomedia“ und anerkennt damit das Christentum als „ religio licita“ und duldet damit offiziell als erster Kaiser das Christentum. Zwei Jahre danach verfassen Konstantin und Licinius gemeinsam die „Vereinbarung von Mailand“, welche als sogenanntes „Mailänder Toleranzedikt“ im Römischen Reich die Freiheit der Glaubensentscheidung für alle Religionen bedeutet. Somit hat sich vor über 1700 Jahren innerhalb kurzer Zeit durch die Kaiser von Carnuntum ein unvorstellbarer Wandel vollzogen, der unsere Welt und unsere Kultur radikal verändert und bis zum heutigen Tag geprägt hat. Religiöse Toleranz hat also schon sehr frühe Wurzeln, wenngleich ein kurzes Gedächtnis. Als nämlich das Christentum 381 n. Chr. unter Theodosius im Römischen Reich zur Staatsreligion erklärt wird, ist die Dankbarkeit über die Auswirkungen des Toleranzediktes vergessen. Die vor 313 verfolgte Kirche wird rasch zur eifrigen Verfolgerin der Un- und Andersgläubigen.
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