»Wir sollten hier einen Hund haben«, sagte der Dicke zu seinem Gefährten, ohne Ransom zu beachten.
»Du meinst, wir hätten einen Hund, wenn du nicht darauf bestanden hättest, Tartar für einen Versuch zu benutzen«, sagte der Mann, der bisher geschwiegen hatte. Er war annähernd so groß wie der andere und seine Stimme kam Ransom irgendwie bekannt vor.
»Hören Sie«, fing Ransom wieder an, »ich weiß nicht, was Sie mit diesem Jungen vorhaben, aber seine Arbeitszeit ist längst um und es ist höchste Zeit, dass Sie ihn nach Hause schicken. Ich habe nicht die geringste Lust, mich in Ihre persönlichen Angelegenheiten zu mischen, aber …«
»Wer sind Sie überhaupt?«, fuhr der dicke Mann ihn an.
»Mein Name ist Ransom, wenn Sie das meinen, und …«
»Großer Gott«, rief der Schlanke. »Etwa der Ransom, der in Wedenshaw war?«
»Ich bin in Wedenshaw zur Schule gegangen«, sagte Ransom.
»Ich habe mir gleich gedacht, dass ich dich kenne, als du den Mund aufgemacht hast. Ich bin Devine. Erinnerst du dich an mich?«
»Natürlich erinnere ich mich. Allerdings!«, erwiderte Ransom, als sie einander mit der für solche Zusammentreffen typischen, etwas bemühten Herzlichkeit die Hände schüttelten. Dabei hatte Ransom, soweit er sich erinnerte, von allen Schulgefährten Devine am wenigsten gemocht.
»Rührend, nicht wahr?«, sagte Devine. »So sieht man sich wieder, sogar in der Wildnis von Sterk und Nadderby. Da sitzt einem plötzlich ein Kloß im Hals und man denkt zurück
an die Abendgottesdienste in der guten alten Schulkapelle. Kennst du zufällig Weston?« Devine zeigte auf seinen massigen und lautstarken Gefährten. »Den Weston«, setzte er hinzu. »Du weißt schon, der große Physiker. Schmiert sich zum Frühstück Einstein aufs Brot und trinkt dazu einen halben Liter von Schrödingers Blut. Weston, darf ich dir meinen alten Schulkameraden Ransom vorstellen. Doktor Elwin Ransom. Der Ransom, du weißt schon, der große Philologe. Schmiert sich Jespersen aufs Brot und trinkt dazu einen halben Liter …«
»Kenne ich nicht«, unterbrach Weston, der den unglücklichen Harry noch immer am Kragen hielt. »Und wenn du meinst, ich würde mich freuen, diese Person kennen zu lernen, die da ungefragt in meinen Garten eingedrungen ist, dann muss ich dich enttäuschen. Es ist mir völlig gleichgültig, in welche Schule er gegangen ist oder für welchen unwissenschaftlichen Unfug er Gelder vergeudet, die besser in die Forschung gehen sollten. Ich will wissen, was er hier zu suchen hat; und dann soll er sich fortscheren.«
»Sei kein Esel, Weston«, sagte Devine in ernsthafterem Ton. »Er kommt doch gar nicht ungelegen. Mach dir nichts aus Westons Gepolter, Ransom. Hat ein weiches Herz unter seiner rauen Schale, weißt du. Willst du nicht hereinkommen und etwas mit uns trinken und eine Kleinigkeit essen?«
»Das ist sehr nett von dir«, sagte Ransom. »Aber was den Jungen angeht …«
Devine zog Ransom beiseite. »Schwachsinnig«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Ist fleißig und zuverlässig, kriegt aber immer wieder diese Anfälle. Wir haben nur versucht, ihn für eine Stunde oder so ins Waschhaus zu sperren, damit er sich beruhigt und wieder normal wird. In diesem Zustand konnten wir ihn nicht heimgehen lassen. Alles reine Freundlichkeit. Wenn du willst, kannst du ihn jetzt nach Hause bringen – und dann wiederkommen und hier übernachten.«
Ransom war ziemlich verwirrt. Die ganze Situation bereitete ihm ein solches Unbehagen und kam ihm so verdächtig vor, dass er das Gefühl hatte, auf verbrecherische Machenschaften gestoßen zu sein. Andererseits jedoch hing er der tiefen, irrationalen Überzeugung vieler Leute seines Alters und seiner Klasse an, dass solche Dinge außer in Romanen niemals einem gewöhnlichen Menschen widerfahren und schon gar nicht mit Professoren und alten Schulkameraden in Zusammenhang zu bringen waren. Selbst wenn sie den Jungen misshandelt hatten, sah er kaum eine Möglichkeit, ihn gewaltsam aus ihren Händen zu befreien.
Während Ransom diese Gedanken durch den Kopf gingen, hatte Devine leise auf Weston eingeredet, wie jemand, der in der Gegenwart eines Gastes Fragen der Unterbringung bespricht. Schließlich stimmte Weston grunzend zu. Ransom, zu dessen übrigen Schwierigkeiten nun noch eine gesellschaftliche Verlegenheit kam, wollte eine Bemerkung machen. Doch Weston wandte sich gerade an den Jungen.
»Für heute haben wir genug Ärger mit dir gehabt, Harry«, sagte er. »Und in einem vernünftig regierten Land wüsste ich schon, was ich mit dir machen würde. Halt den Mund und hör auf zu heulen. Du brauchst nicht ins Waschhaus, wenn du nicht willst …«
»Es war nicht das Waschhaus, das wissen Sie genau«, schluchzte der einfältige Junge. »Ich will nicht wieder in dieses Ding da hinein.«
»Er meint das Labor«, unterbrach ihn Devine. »Er ist mal hineingeraten und durch einen unglücklichen Zufall ein paar Stunden darin eingesperrt gewesen. Das hat ihm aus irgendeinem Grund einen Schrecken eingejagt.« Er wandte sich dem Jungen zu. »Hör zu, Harry«, sagte er. »Sobald dieser freundliche Herr sich ein wenig ausgeruht hat, wird er dich nach Hause bringen. Wenn du reinkommst und ruhig in der Halle sitzen bleibst, gebe ich dir etwas, das du magst.« Er machte das Geräusch nach, das beim Entkorken einer Flasche entsteht – Ransom erinnerte sich, dass dies schon in der Schule einer von Devines Tricks gewesen war –, und Harry brach in ein kindliches, wissendes Lachen aus.
»Bring ihn rein«, sagte Weston, wandte sich ab und verschwand im Haus. Ransom zögerte, ihm zu folgen, aber Devine versicherte ihm, dass Weston über seinen Besuch sehr erfreut sei. Das war offensichtlich gelogen, aber Ransoms
Verlangen nach Ruhe und etwas zu trinken war stärker als
seine gesellschaftlichen Skrupel. Er folgte Devine und Harry ins Haus und einige Augenblicke später saß er in einem Sessel und wartete auf Devine, der Erfrischungen holen wollte.
Das Zimmer, in das man ihn geführt hatte, wies eine seltsame Mischung aus Luxus und Verwahrlosung auf. Die Fenster hatten keine Vorhänge und waren von außen mit Läden verschlossen; der nackte Boden war mit Kisten, Holzwolle, Zeitungen und Büchern übersät; auf der Tapete hatten die Bilder und Möbel der früheren Bewohner helle Stellen hinterlassen. Die einzigen beiden Sessel dagegen waren höchst wertvoll und in dem Durcheinander auf dem Tisch fanden sich Zigarren, Austernschalen und leere Champagnerflaschen neben Kondensmilchdosen, geöffneten Ölsardinenbüchsen, billigem Geschirr, Brotresten, halb leeren Teetassen und Zigarettenstummeln.
Seine Gastgeber schienen lange auszubleiben und Ransom überließ sich seinen Gedanken an Devine. Er empfand für ihn jene Abneigung, die man jemandem entgegenbringt, den man in seiner Jugend sehr kurze Zeit bewundert und dann als hohl durchschaut hat. Devine hatte einfach etwas früher als andere jene Art von Humor beherrscht, die aus einer ständigen Parodie überlieferter sentimentaler oder idealistischer Klischees besteht. Ein paar Wochen lang hatten seine Anspielungen auf die »gute alte Schule«, »Fairness«, die »Bürde des weißen Mannes« und »Geradlinigkeit« alle, auch Ransom, begeistert. Doch schon bevor Ransom Wedenshaw verließ, hatte er Devine langweilig gefunden; in Cambridge war er ihm aus dem Weg gegangen und hatte sich von ferne gewundert, wie ein so oberflächlicher und letzten Endes alltäglicher Mensch so viel Erfolg haben konnte. Dann war es zu der rätselhaften Berufung Devines an die Universität Leicester gekommen; und sein zunehmender Reichtum war ein nicht minder rätselhaftes Phänomen. Devine war seit Langem nach London übergesiedelt und stellte in der Geschäftswelt vermutlich etwas dar. Hin und wieder fiel sein Name und gewöhnlich schloss der Gesprächspartner mit der Bemerkung, Devine sei »auf seine Art ein verdammt gerissener Bursche«, oder seufzte, »es sei ihm ein Rätsel, wie dieser Mann es so weit habe bringen können«.
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