Die eintönige Stimme der Frau und ihr karger Wortschatz verrieten nicht viel über ihre Gefühle, aber Ransom stand nahe genug, um zu sehen, dass sie zitterte und dem Weinen nahe war. Ihm kam der Gedanke, zu dem geheimnisvollen Professor zu gehen und ihn zu bitten, den Jungen nach Hause zu schicken; und nur den Bruchteil einer Sekunde später fiel ihm ein, dass er, sobald er im Haus und unter Männern seines Berufs wäre, vielleicht aufgefordert würde, die Nacht bei ihnen zu verbringen. Von welcher Art seine Überlegung auch immer gewesen sein mochte, die Vorstellung, in »Haus Aufstieg« vorzusprechen, hatte die Gestalt eines festen Entschlusses angenommen. Er sagte der Frau, was er vorhatte.
»Vielen, vielen Dank, Herr«, sagte sie. »Und wenn Sie so freundlich sein und ihn bis ans Tor und auf die Landstraße bringen würden, bevor Sie weitergehen; Sie verstehen schon, was ich meine, Herr. Er hat solche Angst vor dem Professor, und sobald Sie den Rücken kehren, würde er doch dableiben, wenn die Herren ihn nicht ausdrücklich fortschicken.«
Ransom beruhigte die Frau, so gut er konnte, und verabschiedete sich von ihr, nachdem er sich vergewissert hatte, dass er das Haus nach ungefähr fünf Minuten auf der linken Seite sehen würde. Seine Beine waren während des Stehens steif geworden und nur mit Mühe ging er langsam weiter.
Links von der Landstraße war keinerlei Lichtschein zu sehen, nichts als flaches Feld und eine dunkle Masse, die er für ein Waldstück hielt. Es kam ihm länger als fünf Minuten vor, bis er dorthin gelangte und merkte, dass er sich geirrt hatte. Die Straße war von einer dichten Hecke gesäumt und in die Hecke war ein weißes Tor eingelassen. Die Bäume, die sich über ihm erhoben, als er das Tor untersuchte, waren nicht der Rand eines Wäldchens, sondern nur eine Zeile, durch die der Himmel schimmerte. Er war jetzt überzeugt, dass dies das Tor zu »Haus Aufstieg« war und dass diese Bäume ein Haus und einen Garten umgaben. Er versuchte, das Tor zu öffnen, doch es war verschlossen. Eine Weile stand er unschlüssig, entmutigt von der Stille und der zunehmenden Dunkelheit. Sein erster Gedanke war, trotz seiner Müdigkeit nach Sterk weiterzuwandern; aber er hatte der alten Frau zuliebe eine lästige Pflicht auf sich genommen. Er wusste, dass er sich einen Weg durch die Hecke bahnen konnte, wenn er wirklich wollte. Aber er wollte nicht. Wollte nicht gewaltsam bei einem eigenbrötlerischen Sonderling eindringen – jemandem, der sogar auf dem Land sein Gartentor abschloss. Wie lächerlich würde er dastehen mit seiner albernen Geschichte von einer hysterischen Mutter, die in Tränen aufgelöst war, weil ihr schwachsinniger Junge eine halbe Stunde länger bei der Arbeit festgehalten wurde! Doch es war völlig klar, dass er hineingehen musste, und weil man mit einem Rucksack auf dem Rücken nicht durch eine Hecke kriechen kann, nahm er ihn ab und warf ihn über das Tor. Im selben Augenblick wurde ihm klar, dass er bis jetzt noch nicht wirklich entschlossen gewesen war – jetzt, wo er in den Garten einsteigen musste, zumindest, um seinen Rucksack wiederzuholen. Er ärgerte sich über die Frau und über sich selbst, aber schließlich ging er in die Hocke und zwängte sich durch die Hecke.
Das war schwieriger als erwartet, und mehrere Minuten vergingen, bevor er sich in der nassen Dunkelheit auf der anderen Seite der Hecke aufrichten konnte, zerschunden von Dornen und Brennnesseln. Er tastete sich zum Tor, nahm seinen Rucksack auf und wandte sich dann um, um seine Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen. Auf der Zufahrt war es heller als unter den Bäumen und es fiel ihm nicht schwer, ein großes Steinhaus zu erkennen, von dem er durch eine breite, ungepflegte Rasenfläche getrennt war. Nicht weit von ihm entfernt verzweigte sich die Zufahrt – der rechte Weg führte in einer sanften Kurve zum Haupteingang, der linke verlief geradeaus, offenbar zur Rückseite des Hauses. Ihm fiel auf, dass dieser Weg von tiefen Fahrspuren durchzogen war, in denen jetzt das Wasser stand – so als führen dort regelmäßig schwere Lastwagen. Der andere Weg, den er nun einschlug, war mit Moos überwachsen. Das Haus war völlig dunkel; an einigen Fenstern waren die Läden geschlossen, andere gähnten leer, ohne Läden oder Vorhänge; alle wirkten leblos und ungastlich. Das einzige Zeichen, das auf Bewohner deutete, war eine Rauchsäule, die hinter dem Haus emporstieg und so dicht war, dass man eher an einen Fabrikschornstein oder zumindest an eine Wäscherei dachte als an den Rauchabzug einer Küche. ›Haus Aufstieg‹ war offensichtlich nicht der Ort, wo man Fremde zum Übernachten einladen würde, und Ransom, der bereits einige Zeit mit seiner Betrachtung vertan hatte, hätte sich zweifellos abgewandt und seine unterbrochene Wanderung fortgesetzt, wäre er nicht durch sein unseliges Versprechen gebunden gewesen.
Er stieg die drei Stufen zu der überdachten Veranda hoch, fand die Türglocke, läutete und wartete. Nach einer Weile läutete er wieder und setzte sich auf eine Holzbank, die am Geländer der Veranda entlanglief. Er saß so lange, dass der Schweiß auf seinem Gesicht zu trocknen begann und ihm ein leichtes Frösteln über den Rücken lief, obwohl die Nacht warm und sternenklar war. Er war mittlerweile sehr müde, und vielleicht war das der Grund, weshalb er nicht aufstand und ein drittes Mal läutete. Hinzu kamen die wohltuende Stille des Gartens, die Schönheit des Sommerhimmels und irgendwoher aus der Nachbarschaft der Ruf einer Eule, der die friedvolle Stille ringsum noch zu verstärken schien. Er schien kurz eingenickt zu sein, als er plötzlich aufschreckte und gespannt einem sonderbaren Geräusch lauschte – einem Scharren und Schnaufen, das sich wie ein Handgemenge anhörte. Er stand auf. Das Geräusch war jetzt unverkennbar: Leute in Stiefeln kämpften oder rangen miteinander. Nun wurden auch Stimmen laut. Er konnte nichts verstehen, aber er hörte die abgerissenen, bellenden Rufe von zornigen und atemlosen Männern. Ein Abenteuer war das Letzte, was Ransom jetzt wollte, doch die Überzeugung, dass er der Sache auf den Grund gehen sollte, festigte sich bereits in ihm, als er einen gellenden und deutlichen Schrei vernahm: »Lasst mich los! Lasst mich los!«, und gleich darauf: »Ich will da nicht rein! Lasst mich nach Haus!«
Ransom warf den Rucksack ab, sprang die Stufen hinunter und rannte zur Rückseite des Hauses, so schnell seine steifen und schmerzenden Beine ihn trugen. Die Wagenspuren und Pfützen des schlammigen Wegs führten ihn in eine Art Hof, der von ungewöhnlich vielen Nebengebäuden umgeben war. Sein Blick fiel kurz auf einen hohen Schornstein, eine niedrige Türöffnung, in der ein roter Feuerschein flackerte, sowie eine gewaltige Rundung, die sich schwarz vom Sternhimmel abhob und die er für die Kuppel einer kleinen Sternwarte hielt. Dann wurde seine Aufmerksamkeit von drei Männergestalten in Anspruch genommen, die so nahe vor ihm miteinander rangen, dass er fast mit ihnen zusammengestoßen wäre. Ransom war sofort klar, dass die mittlere Gestalt, die trotz heftigen Widerstandes von den beiden anderen festgehalten wurde, der Sohn der alten Frau war. Am liebsten hätte er die beiden anderen angedonnert: »Was machen Sie mit diesem Jungen?« Doch alles, was er mit ziemlich matter Stimme hervorbrachte, war: »Aber! Ich muss schon sagen …«
Die drei Kämpfer fuhren auseinander, der Junge schluchzte. »Darf ich fragen«, sagte der dickere und größere der beiden Männer, »wer zum Teufel Sie sind und was Sie hier zu suchen haben?« Seine Stimme wies all die Eigenschaften auf, die Ransom so gerne in seine eigene gelegt hätte.
»Ich bin auf einer Wanderung«, sagte Ransom, »und ich habe einer armen Frau versprochen …«
»Zum Teufel mit Ihrer armen Frau«, rief der andere. »Wie sind Sie hier reingekommen?«
»Durch die Hecke«, sagte Ransom, dem jetzt eine gewisse Gereiztheit zu Hilfe kam. »Ich weiß nicht, was Sie mit diesem Jungen machen wollen, aber …«
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