„Nicht unbedingt. Da die Ijsvargs den Erzählungen nach von den Schneekriegern auch zu richtigen Kampfwölfen ausgebildet werden, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass sie darauf abgerichtet sind, Feinde von Freunden zu unterscheiden. Wir wissen so wenig über die Estrilljahner und die Schneekrieger. Vielleicht haben sie ja Verbindungen zueinander, treiben miteinander Handel oder sind gar befreundet“, versuchte der Elf eine plausible Erklärung zu finden.
„Aber warum haben dann die Estrilljahner auf ihn geschossen? Selbst wenn sie mit den Schneekriegern überhaupt keine Verbindungen hätten, müssten sie als entfernte Verwandte von euch doch auch die Erzählungen über die Ijsvargs kennen?“
„Darauf weiß ich leider keine Antwort. Aber ich denke, dass ihr Hass auf die Narsokk-Wölfe so groß ist, dass sie jeden Wolf töten würden, egal ob dieser grau, schwarz oder weiß ist. Trotzdem glaube ich, dass sie dem Ijsvarg nichts tun wollten, bei dem Durcheinander und den vielen Pfeilen war es wohl eher ein Versehen als Absicht. Obwohl sie zwar mit uns entfernt verwandt sind, sind sie von ihrem Wesen doch völlig anders. Denk an die brutalen Trolle, die ja auch einmal Elfen waren. Das sanfte Wesen der Waldelfen wird seit Ewigkeiten von Generation zu Generation weitergegeben und gepflegt. Daher töten wir nur dann, wenn es unbedingt erforderlich ist und essen niemals Fleisch. Diese Sanftheit wirst du weder bei den Trollen noch bei den Estrilljahnern finden, denn ihr Leben ist von Gewalt geprägt.“
„Es gibt aber eine Ausnahme bei den Trollen, nämlich Orax. Wir haben ihm viel zu verdanken. Hätte er uns damals in der Höhle des grässlichen Feuerkopfes Furtrillorrh nicht befreit, hätte uns dieser Drache ganz sicher bestialisch ermordet. Kaum zu glauben, dass er Merthurillhs Bruder ist.“
„Du hast Recht, Adalbert. Wir stehen tief in Orax’ Schuld. Aber vergiss nicht, dass er ein Anführer der Trolle ist. Diesen Rang hat er sich ganz bestimmt nicht durch Nettigkeiten verdient. Trotzdem würde ich mein Leben für ihn geben.“
Als sich Jordill nun dem weißen Wolf zuwandte und zwei Schritte auf ihn zu ging, wich dieser unerwartet zurück.
„Es ist so, wie ich es bereits vermutet habe, der Ijsvarg ist wegen dir beziehungsweise wegen der Seele von Allturith hier.“
Jeder Elf hatte eine natürliche Verbundenheit zu Tieren, aber bei Jordill war es deutlich mehr, er empfand eine tiefe Zuneigung für sie. Von seinen Brüdern war er es, der die Tiere am meisten liebte und der sich auch am intensivsten mit Tork beschäftigt hatte.
Adalbert bedauerte, dass der Elf von dem Wolf zurückgewiesen worden war, und wollte versuchen, den weißen Riesen dazu zu bringen, sich von Jordill berühren zu lassen. Deshalb kniete er sich in den Schnee und streckte dem Schneewolf die offene Hand entgegen, um ihn vorsichtig anzulocken. Doch auch bei ihm reagierte der Wolf nicht so, wie er es erwartet hatte, sondern er drehte sich um und trottete in der gleichen Richtung davon, wie zuvor die fürchterlichen Narsokk-Wölfe, als ob ihm die beiden Zweibeiner völlig gleichgültig wären. Nun war auch Adalbert enttäuscht.
„Wenigstens hat er uns nicht böse angeknurrt oder uns gar angegriffen“, tröstete ihn der Elf. „Weißt du, der Wolf geht seinen eigenen Weg. Die Schneekrieger haben ihn so wild erzogen, damit er nicht zu zutraulich wird. Die Aufgabe der Ijsvargs ist schließlich die Jagd auf große Tiere und der Kampf gegen jegliche Feinde der Schneekrieger. In unseren Erzählungen sollen sie genauso mutig gegen Bären kämpfen wie gegen Trolle oder gar Drachen. Seinen unerschütterlichen Mut hast du ja vorhin selbst gesehen, als er sich fünf riesigen Narsokks entgegengestellt hat. Wir werden uns wohl damit begnügen müssen, dass wir ihn wenigstens vorhin, als du seine Wunden versorgt hast, kurz streicheln durften.“
„Ich glaube, dass wir ihn schon bald wiedersehen werden. Sollte er wirklich wegen Allturiths Seele hier gewesen sein, dann ist seine Aufgabe im Drachenland ja noch nicht erledigt.“
„Das glaube ich auch“, stimmte ihm Jordill zu.
Ohne weitere Worte packten sie ihre Habseligkeiten zusammen, traten noch einmal an die Stelle heran, an der Tork gestorben war, verabschiedeten sich mit dem Elfengruß von ihm und machten sich auf den weiteren Weg durchs unwegsame Eisgebirge, dem Kalten Finger entgegen.
Kapitel 7
Im Nasli Karillh
Die erste Nacht im Elfenwald brachte Erik einen tiefen und erholsamen Schlaf. Als er sich von seiner weichen Schlafstätte erhob und genüsslich seine müden Glieder reckte, kam es ihm beinahe so vor, als wären die Strapazen der letzten Tage in dieser herrlich ruhigen Nacht völlig von ihm abgefallen.
Als er am Vorabend nach dem köstlichen Abendessen, begleitet von den wohlklingenden Liedern der hübschen Elfenmädchen und vielen interessanten Gesprächen über ihre bisherige Reise und erste Einblicke in die Geschichte des Drachenlandes, endlich von der zierlichen Marilljah zu seiner Schlafstätte geführt worden war, war er todmüde auf die Schlafstätte gefallen. Dankbar für diese weiche Unterlage und die Tatsache, dass er sich das Bett nicht noch selbst vorbereiten musste, schlief er mit süßen Träumen von dem schönen Elfenmädchen ein.
Jetzt hatte er endlich die Gelegenheit, sich erst einmal in Ruhe in seiner gemütlichen Behausung umzusehen. In der Nacht war er dazu viel zu erschöpft gewesen. Das kreisrunde Gebäude bestand aus Lehm, den die Elfen am Mittensee abbauten und der mit besonderem Kieselsand aus dem Nordland vermischt wurde, damit er eine einzigartige Härte erreichte.
Die Wände waren von innen mit einem weißen Putz verziert, der am Übergang zu dem kegelförmigen Spitzdach mit kunstvollen Skulpturen geschmückt war. Als Erik genauer hinsah, erkannte er dort eine Gruppe von Elfen, die ihrerseits eingerahmt von den riesigen Bäumen des Nasli Karillhs und den verschiedensten Tieren des Drachenlandes waren. Er ging ein paar Schritte auf die Wand zu, um sich diese Figuren näher anzusehen. Da sie so wunderschön aussahen und irgendwie lebendig erschienen, verspürte Erik das Verlangen, sie einmal zu berühren. Doch zuvor fiel sein Blick noch auf einen ordentlich zusammengelegten Stapel von edler Kleidung, die auf einem kleinen Hocker lag. Er berührte den Stoff, prüfte diesen zwischen Zeigefinger und Daumen und war überrascht, wie angenehm sich diese Kleidung anfühlte.
„Wenn du möchtest, dann darfst du dir diese Gewänder gerne anziehen“, klang plötzlich eine männliche Stimme hinter ihm. Erschrocken drehte sich Erik herum und erkannte in der Türöffnung einen älteren Elfen, mit dem er sich bereits gestern Abend recht lange unterhalten hatte.
„Hier in Karsarillhmeg endet deine Reise erst einmal. Damit du dich bei uns so wohl wie irgend möglich fühlen kannst, hat unser weiser und weitsichtiger König Erithjull angeordnet, dir diese Kleidung bereitzulegen.“
„Guten Morgen, lieber Estrilljah“, begrüßte Erik den Elfen.
„Oh, du hast dir meinen Namen gemerkt. Das freut mich sehr. Ich habe die Ehre, in den nächsten Tagen dein Lehrer zu sein. Wir werden sehr viel Zeit miteinander verbringen, sodass ich dir viel beibringen kann. Nun zieh dich um und komm mit mir zum Frühstück, wo bereits dein Freund Rognagg auf dich wartet.“
„Freund ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort“, bemerkte der Junge mit einem gehörigen Magengrummeln, als er sich an den wütenden und tobenden Zwerg erinnerte, dem er an der Drachenschule einen dummen Streich gespielt hatte, als er dessen ganzen Stolz, seinen Schnurrbart, abgeschnitten hatte.
„Er jedenfalls hat zu mir gesagt, dass er sich schon sehr auf dich freut. Nun zieh dich bitte um, ich werde vor der Tür auf dich warten.“
Genauso leise, wie er die Rundhütte betreten hatte, war der Elf auch schon wieder verschwunden.
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