„Oje, das kann ja was werden“, stöhnte Erik, während er nach den Kleidern griff.
Auf dem Weg zu dem großen Lehmhaus, wo sie bereits das Abendbrot eingenommen hatten, fragte Erik den Elfen nach den verschiedenen kunstvollen Figuren, die er in seiner Hütte am Übergang zum Dach gesehen hatte.
„Du hast dort nicht nur Elfen gesehen, sondern auch Pflanzen und Tiere. Wenn du dich in die Mitte der Hütte stellst und dich dann langsam im Kreis drehst, erkennst du den Lebenszyklus unseres Volkes. Dieser beginnt mit der Geburt als Elf, führt anschließend über die Wiedergeburt in ein Leben als Pflanze, gefolgt von einem Leben als Tier bis zur erneuten Geburt als Elf. Manchmal wechseln unsere Lebenswege auch und so können wir die Erfahrung als Tier noch vor der als Pflanze machen.“
„Wir Menschen leben nur einmal. Das ist irgendwie ungerecht, denn ihr lebt als Elfen ja nicht nur viel länger als wir, sondern auch noch viermal. Meine Mutter ist zwar davon überzeugt, dass sie früher schon einmal gelebt hat, aber ich glaube, dass das Quatsch ist.“
„Warum glaubst du denn deiner Mutter nicht? Wir Elfen würden niemals unsere Eltern in Frage stellen, denn sie haben viel mehr Erfahrung als wir, ihre Söhne und Töchter. Wenn deine Mutter das Gefühl hat, dass sie schon einmal gelebt hat, dann solltest du ihr glauben. Ich will damit nicht sagen, dass es damit unbedingt zu einer Tatsache wird, aber vielleicht hat sie in ihrem Leben etwas erlebt, dass sie daran glauben lässt, zuvor schon einmal gelebt zu haben. Es könnte natürlich auch sein, dass sie sich eine schützende Scheinwelt aufgebaut hat, um vielleicht mit irgendwelchen belastenden Erlebnissen oder schlimmen Träumen, die sie oft beschäftigen, besser in Einklang zu kommen. Wir denkenden Lebewesen sind in der Lage, Dinge aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten. Daher wird es nie nur eine einzige Wahrheit geben“, begann der Elf Estrilljah mit seiner ersten Lehrstunde.
***
Knut von Tronte war bereits lange vor Erik erwacht, als der neue Tag noch ganz jung war. Seine Nacht war jedoch nicht annähernd so erholsam gewesen wie die des frechen Jungen. Immer wieder hatte er wach auf dem für seinen Geschmack viel zu weichen Bett gelegen und sich mit Selbstvorwürfen und Ängsten um seinen Sohn Adalbert gequält. Als er dann erkannt hatte, dass er wohl doch nicht mehr einschlafen würde, stand er auf, zog sich seine Kleidung an und wanderte leise in dem Elfendorf umher, um den klaren Morgenduft zu atmen. Vielleicht wäre die frische Luft ja auch dazu in der Lage, seine dunklen Gedanken zu vertreiben.
„So früh schon auf den Beinen?“, klang unerwartet die melodische Stimme des Elfenkönigs Erithjull neben ihm aus dem Dämmerlicht.
„Ja, irgendwie konnte ich nicht mehr schlafen“, antwortete der Ritter. Er war erstaunt, dass er die Annäherung des Elfen nicht bemerkt hatte, und darüber, dass selbst der König des Elfenwaldes um diese frühe Stunde schlaflos herumlief.
„Ich vermute, uns plagen ähnliche Gedanken, wenngleich wir sie bisher aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet haben“, begann der König das Gespräch erneut. „Die Sorgen um unser geliebtes Drachenland, unsere verlorenen Freunde, Brüder und Söhne und das ungewisse Schicksal deines Jungen und unseres Freundes Adalbert rauben uns die nötige Ruhe, die wir zu finden hofften.“
„Du hast Recht. Natürlich mache ich mir Sorgen um meinen Sohn, aber ich habe in den letzten Tagen erfahren, dass er in der Gegenwart seiner neuen Freunde bisher treuen und guten Schutz erfahren hat. Trotzdem ist man als Vater natürlich ständig in Sorge um seine Kinder“, stimmte ihm der Ritter zu.
Der Elf schwieg einen Moment, bevor er damit begann, etwas mehr in die Tiefe zu bohren. „Ich spüre, dass das noch nicht alles ist, was dir den Schlaf raubt.“
Ritter Knut von Tronte war dieses Thema unangenehm, denn er hatte den Eindruck, von dem König ausgefragt zu werden. Daher hielt er sich mit seinen Antworten zurück. Der weise Elf bemerkte das unbehagliche Gefühl bei seinem Gegenüber und kam auf Adalbert zurück.
„Von deinem Sohn habe ich schon viel über dich und deine Beziehung zu ihm erfahren. Wenngleich ich die Drachenjagd aus meinem tiefsten Inneren verabscheue – entschuldige an dieser Stelle bitte meine schroffen und direkten Worte – hat es mich doch sehr gefreut, dass ihr so viel gemeinsam unternommen habt. Ich kann mir vorstellen, dass dir dein Sohn in den vergangenen Tagen sehr gefehlt hat.“
„Was heißt hier gefehlt? Ich habe mir nur Gedanken darüber gemacht, wo sich der Bengel die ganze Zeit über herumtreibt“, antwortete Knut von Tronte mit einem Unterton in der Stimme, der dem Elfen zeigte, dass er richtig vermutet hatte. Der stolze Ritter wollte nur nicht den Eindruck erwecken, dass er einen weichen, vielleicht sogar sentimentalen Kern unter seiner sonst so harten Schale hätte.
„Ich habe Adalbert bereits nach so kurzer Zeit tief in mein Herz geschlossen. Außerdem bin auch ich glücklicher Vater einer bezaubernden Tochter, die mich mühelos um ihren kleinen Finger zu wickeln versteht.“
Von Tronte sah dem erfahrenen König tief in die Augen und musste dann bei dem Gedanken schmunzeln, dass die liebliche Marilljah ihren stolzen Vater, der stets so unglaublich überlegen wirkte, mit ihren wunderschönen Mandelaugen umgarnte, bis dieser endlich schwach wurde.
„Wir Väter sind eben auch nur Elfen, beziehungsweise Menschen. Daher kann ich mich recht gut in deine Lage versetzen. Ich weiß, was in deinem Inneren vorgegangen sein muss, als du deinen Sohn nicht mehr auf eurem Hof angetroffen hast und auch noch erfahren musstest, dass Adalbert ausgerechnet mit fremden Elfen, Zwergen und gar Drachen unterwegs sei, zu denen du bis dahin noch nie Kontakt hattest und die du damals als deine Feinde betrachtet hast.“
Das zustimmende Nicken des mächtigen Ritters signalisierte Erithjull, dass er mit seiner Äußerung direkt ins Schwarze getroffen hatte.
„Warum habe ich mein bisheriges Leben nur damit verschwendet, Drachen zu jagen und zu erlegen? Warum habe ich mich nicht schon viel früher mit den anderen Völkern des Drachenlandes beschäftigt? Dann hätte ich bestimmt nicht so viel Schuld auf mich geladen. Den ehrenvollen Stand eines Ritters, der sich stets für das Wohl der Schwächeren einsetzen sollte, habe ich gar nicht verdient“, klangen die nachdenklichen Worte des einst so stolzen Mannes.
„Lieber Knut von Tronte, es liegt in der Natur eines jeden Individuums, ganz gleich, ob es sich dabei um einen Menschen, einen Zwerg, einen Troll oder einen Elfen handelt, immer zuerst an sich und sein eigenes Volk zu denken. Dafür ist unser Selbsterhaltungstrieb verantwortlich, ohne den wir nicht in der Lage wären, Familien zu gründen, für diese zu sorgen und sie selbst mit unserem Leben zu verteidigen.
Auch in meinem Volk gibt es viele Elfen, die sich sicherlich noch nie mit den anderen Völkern beschäftigt hätten, wenn sie dieses Wissen nicht durch unsere Schulen vermittelt bekommen hätten. Unter diesem Aspekt betrachten wir auch deine bisherigen Taten. Da du jetzt aber auf dem besten Weg bist, etwas weiter über deinen Horizont hinauszublicken, wird sich dein bisheriges Leben grundsätzlich verändern. Deine Entscheidungen von morgen werden nicht mehr die deiner Vergangenheit sein.
Natürlich dienten deine bisherigen Taten eher der Befriedigung deiner eigenen Rachsucht gegen die Drachen, die ja durch den Verlust deiner geliebten Frau bis zu einem gewissen Maße nachvollziehbar ist, als dem Wohl unserer geliebten Heimat. Aber trotzdem solltest du dir vor Augen halten, dass du damit auch eine entschlossene Tatkraft und einen bewundernswerten Mut bewiesen hast. Es gibt nicht viele, die so beherzt sind, sich einem ausgewachsenen, feuerspeienden Drachen entgegenzustellen. Außerdem warst du es, der nicht nur deinen Sohn, sondern auch Merthurillh vor seinem Bruder gerettet hat. Hättest du nicht so viel Erfahrung im Kampf gegen die Drachen sammeln können, wärst du nicht in der Lage gewesen, einem Drachen das Leben zu retten. Welch seltsame Ironie.“
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