In diesem Augenblick trat der Anführer der Kapuzenmänner ein paar Schritte auf sie zu und flüsterte erneut ein paar leise Worte zu Jordill. Auch jetzt konnte Adalbert keinen klaren Blick auf das Gesicht des riesigen Mannes erhaschen.
„Sie mögen es nicht, wenn man sie so direkt ansieht“, warnte Jordill seinen Freund, der diesen Hinweis sofort verstand und seine Neugier zügelte. Irgendwann würde er das Gesicht des Fremden schon noch zu sehen bekommen, davon war er überzeugt.
„Der Anführer der fünf Estrilljahner, wie wir Elfen die Kapuzenmänner nennen, hat mich gebeten, dass sie sich um Tork kümmern dürfen. Sie wollen dafür sorgen, dass seine Überreste zum Elfenwald gebracht werden. Außerdem folgen sie bereits seit mehreren Tagen den Spuren der Narsokk-Wölfe, um sie zu erlegen.“
„Aber wie wollen sie das machen, wenn die Wölfe trotz tödlicher Verletzungen nicht sterben?“
„Glaube mir, die Estrilljahner sind dafür bestens ausgerüstet!“, war die seltsame Antwort Jordills.
„Was sind denn Estrilljahner? Und was können sie schon gegen untote Wölfe ausrichten? Du hast doch selbst gesehen, dass sie mit ihren Pfeilen den Bestien nichts anhaben konnten“, murrte Adalbert.
„Nicht jetzt! Das erkläre ich dir später, wenn wir alleine sind. Der Anführer hat übrigens gesagt, dass der weiße Wolf noch lebt. Wir sollten uns bei ihm für seine Hilfe bedanken, bevor auch er stirbt.“
Adalbert war überrascht. Wie konnte der Wolf denn noch leben? War er etwa auch ein blutleeres Monster? Warum hatte er ihnen dann geholfen?
Schnell lief der Junge zu dem sterbenden Wolf. Seine Eile lag nicht nur daran, dass er sich um diesen unerwarteten Retter kümmern wollte, er musste auch unbedingt fort von diesem schrecklichen Schlachtfeld. Der Estrilljahner machte einen kleinen Schritt zur Seite und ließ Adalbert hindurch. Als er mit seiner Schulter gerade an dem verhüllten Anführer vorbei ging, bemerkte der Junge, wie dieser kurz seinen Kopf eine Winzigkeit anhob und seinen Körpergeruch hörbar einsog. Dabei konnte er einen flüchtigen Blick auf das Gesicht des Estrilljahners werfen, was er sofort bereute. Dieser winzige Moment hatte genügt, dass Adalbert die blass-graue, schuppige Haut des Mannes erkennen konnte. Die tiefliegenden Augen waren einfach nur pechschwarz, ohne Iris oder Pupillen, und machten auf ihn einen leblosen Eindruck, ähnlich wie bei den Narsokk-Wölfen. Und dann war da noch dieser seltsame Mund, der viel eher aussah, wie ein riesiger Raubvogelschnabel.
Adalbert fürchtete sich vor dem, was er gerade gesehen hatte und verstand nun Jordills Warnung, dass es die Estrilljahner nicht mochten, wenn man sie ansah. Schnell tat er so, als hätte er nichts gesehen, auch wenn er befürchtete, dass der Estrilljahner ihm das nicht abnehmen würde, und ging mit einem Gefühl der Angst weiter auf den weißen Wolf zu. Diesmal achtete er ganz bewusst darauf, die anderen Estrilljahner nicht anzusehen.
„Hallo, weißer Freund, warum hast du dein Leben riskiert, um uns zu retten?“, fragte er, als er sich vorsichtig zu dem Wolf hinunterkniete. Aus seinen Augenwinkeln konnte der Junge erkennen, wie die Estrilljahner einen Schritt auf ihn zugingen. Er vermutete, dass sie dies taten, um ihm notfalls beizustehen, falls der Wolf doch noch einmal die Kraft für einen letzten Angriff finden und diesen gegen ihn richten würde.
Daher hob er kurz die Hand und sagte, ohne zu ihnen hinüberzublicken, laut und deutlich, dass sie zurückbleiben sollten, da er keine Angst vor dem Wolf habe.
Als hätte er seine Worte verstanden, drehte der Wolf seinen Kopf zu ihm und schaute ihn an, als wenn er direkt in seine Seele blicken würde. Sofort erinnerte sich Adalbert an den schrecklichen und alles verändernden Tag, an dem der sterbende Drache Allturith seinen letzten Atemzug getan und seine Seele auf ihn übertragen hatte. Wieder kämpfte er mit den Tränen. Warum mussten bloß so viele der Lebewesen sterben, die er seit diesem Tag kennengelernt hatte?
Die Pfeile der Estrilljahner steckten tief in der Brust und in der Flanke des Wolfes. Das herausquellende warme Blut verfärbte das seidig weiße Fell und tropfte auf den kalten Boden, wo es sofort gefror.
Adalbert griff in seine Tasche und zog das kleine Fläschchen mit Merthurillhs Tränen hervor, aus denen die Waldelfen das geheimnisvolle Heilöl bereitet hatten, mit welchem er bereits seinen Elfenfreund Antharill zu retten versucht hatte, bevor dieser sich in den Hengst verwandelt hatte.
Er öffnete das Gefäß und stellte es vorsichtig so neben sich in den Schnee, dass es nicht umfallen konnte. Dann beugte er sich über den Wolf und flüsterte ihm ins Ohr: „Bleib ruhig, mein Schöner. Ich werde dir gleich die Pfeile aus deinem Körper ziehen und dich dann heilen. Den Tod von Tork konnte ich leider nicht verhindern, aber du wirst heute ganz sicher nicht sterben!“
Schnell, aber trotzdem möglichst behutsam, zog der Junge den Pfeil aus der blutverschmierten Brust heraus, warf ihn zur Seite und beobachtete den Wolf besorgt. Dieser hatte sich kaum bewegt. Nur das schmerzverzerrte Jaulen bewies, dass er noch immer lebte. Aus der offenen Wunde strömte das Blut, als ob es ein reißender Gebirgsbach wäre. Rasch griff Adalbert zu der kunstvoll verzierten Flasche und tröpfelte vorsichtig etwas von der heilenden Flüssigkeit in die Wunde. Es zischte so ähnlich, wie wenn Fett in die Glut eines Lagerfeuers tropfte. Sofort stiegen hellgraue Dämpfe aus der Verletzung empor. Nun wiederholte Adalbert die Prozedur auch beim zweiten Pfeil. Noch bevor er das Fläschchen wieder zugeschraubt hatte, begannen die ersten Wunden bereits, sich zu schließen. Jordill war inzwischen dazugekommen und hatte dem Wolf tröstend den Kopf gestreichelt. Als Adalbert den zweiten Pfeil herausgezogen hatte, presste der Elf seine Stirn an die des Wolfes, um ihm Kraft zu geben, damit er diese schmerzhafte Behandlung überstehen konnte.
„Morgen wirst du wieder laufen können, mein Freund“, tröstete er den Wolf, wobei er manchmal traurig zu den Überresten seines Onkels hinüber sah, als wenn dieser plötzlich, wie durch ein Wunder, wieder auferstehen könnte.
Adalbert konnte im Moment nichts mehr für die Wunden des Wolfes tun, rutschte zu Jordill heran und forderte den Elfen auf, doch wieder zu Tork zurückzugehen, um den Estrilljahnern dabei behilflich zu sein, die sterblichen Überreste für den Transport vorzubereiten.
„Ich werde dir gleich folgen, möchte mich aber zuvor noch bei unserem neuen Freund für seinen mutigen Rettungsversuch bedanken“, erklärte Adalbert und legte behutsam den großen Kopf des Wolfes in seinen Schoß.
Jordill führte ein leises Gespräch mit dem Anführer der Kapuzenmänner und kam dann noch einmal zu Adalbert zurück, um ihm zu berichten, was der Estrilljahner ihm gesagt hatte.
„Es tut dem Anführer wirklich leid, dass sie den weißen Wolf getroffen haben. Sie wussten nicht, in welcher Verbindung er zu uns stand. Außerdem stand er mitten in der Schusslinie zu den Narsokk-Wölfen. Der Estrilljahner nannte mir seinen Namen und bat mich, dass ich ihn dir sagen sollte“, begann Jordill, bevor er von Adalbert ungeduldig unterbrochen wurde.
„Sag schon, wie heißt er und warum nennt er mir seinen Namen denn nicht selbst?“, fragte Adalbert, der nun wieder vorsichtig zu dem Fremden sah.
„Sie sprechen nicht gerne mit Menschen oder Zwergen, denn in der Vergangenheit haben sie sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Besonders die Menschen haben sie wegen ihres Aussehens stets wie Aussätzige behandelt und verspottet. Das führte dazu, dass sie ihr Antlitz vor euch stets verbergen und nur sprechen, wenn es unbedingt notwendig ist“, erklärte der Elf.
„Na da bin ich ja wirklich froh, dass es diesmal nicht nur wir Menschen sind, die alleine für alles Schlechte verantwortlich sind, sondern dass es auch mal die Zwerge trifft“, erwiderte Adalbert leicht gereizt.
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