Zudem sind »Tall Tales«, also Lügengeschichten auch eine alte Tradition des Wilden Westens. Einer der größten historischen Geschichtenerzähler war Jim Bridgers (1804-1881). Seine Entdeckungen als Scout und Trapper sind legendär. Er sah als erster Weißer den Yellow Stone und den großen Salzsee. Der nach ihm benannte Bridgers Pass verkürzte den Oregon Trail um 61 Meilen. Bridger liebte es, den Greenhorns Geschichten zu erzählen und sie dabei auf den Arm zu nehmen. In einer seiner liebsten Geschichten wurde er von über hundert Kriegern der Cheyenne verfolgt. Nachdem sie ihn mehrere Meilen gejagt hatten, fand er sich am Ende eines Canyons wieder, aus dem es kein Entrinnen gab. Die Indianer hatten ihn eingekesselt. Alles ging dem Ende zu. An diesem Punkt der Geschichte schwieg Bridger und wartete auf die Frage seiner Zuhörer.
»Was passierte dann, Mr. Bridger?«, kam die atemlose Frage aus dem Publikum.
Bridger antwortete: »Nun, sie töteten mich.«
Die Idee zu dieser Anthologie kam mir vor ungefähr vier Jahren, nachdem ich den Schatz im Silbersee erneut gelesen hatte. Zum ersten Mal ging mir richtig auf, dass auch jede der Nebenfiguren so unglaublich bunt war und voller Geschichten steckte, sodass ich es bedauerte, dass es nicht mehr über die skurrilen Helden am Rande zu erfahren gab. Einen Umstand, den es zu ändern galt.
Welche Autoren könnte ich für diese Anthologie gewinnen? Es sollten Phantastikautoren sein, denn für mich lebt diese besondere Fabulierkunst Mays vor allem in den phantastischen Welten weiter. Aber es sollte kein Phantastikbuch werden, sondern eine Hommage an die Abenteuergeschichten, die einen als Kind aus der Welt entrissen und die Weide oder den Parkplatz von nebenan zur Hochebene des Llano estakados werden liessen.
Letztendlich fanden sich 23 Autoren, um die Geschichte von Tante Droll, Hobble-Frank und Ellen weiterzuerzählen. Diese drei Helden sollen ein roter Faden sein, der die Abenteuer in der Anthologie verbindet.
Falls sie diese drei noch nicht kennen, so möchte ich Sie ihnen kurz vorstellen:
Hobble-Frank(Bürgerlich: Heliogabalus Morpheus Edeward Franke) hält sich für gebildet, deutlich gebildeter als seine Mitmenschen. Dabei wirft er aber vieles durcheinander und kann schnell aufbrausend werden, wenn man ihn auf diese Fehler aufmerksam macht oder ihn gar verbessert. Auch wenn er ein Pfau im Gehabe ist, so wird er doch als ehrlicher und zuverlässiger Freund geschätzt.
Sein Vetter Tante Droll(Bürgerlich: Sebastian Melchior Pampel) Tante Droll ist von kleinem, dicklichem Wuchs, dabei bekleidet mit einem ledernen, sackartigen Gewand, das aussieht wie Frauenkleidung. Da er kaum Bartwuchs hat und er mit einer hohen Fistelstimme spricht, erklärt es sich leicht, wie er zu seinem Spitzamen gekommen ist. Abgesehen von diesen Äußerlichkeiten ist er ein äußerst fähiger Westmann und im Gegensatz zu seinem Vetter Hobble-Frank ein eher ernster Mensch.
Damit die Welt nicht zu maskulin wird, gesellt sich noch Ellen zu diesen beiden.
Ellenist die Tochter von Old Firehand (in der Originalfassung von 1875) und dessen zweiter Frau Ribanna, die große Liebe von Winnetou. Nach der Ermordung Ribannas lehrt Winnetou das Mädchen alles, was man im Wilden Westen können und wissen muss.
Der eigentliche rote Faden ist aber der Geist der Abenteuergeschichte. Dies nostalgisch-süße Gefühl, wenn man sich mit einem Karl-May-Roman in eine Ecke verzog und in dieser Welt versank. Daher werden sie Geschichten lesen, in denen diese drei Helden nur am Rande auftauchen, bei anderen wiederum stehen sie im Mittelpunkt. Allen gemeinsam ist aber die Lust am Abenteuer. Manche Geschichten mögen sich widersprechen, denn es wird viel erzählt an den Lagerfeuern des Wilden Westens. Wer weiß schon, was der Wahrheit entspricht?
Die Geschichten in diesem Buch sind so unterschiedlich wie die Autoren: Mal spannend, romantisch, lustig, dramatisch oder tragisch. Es war nie das Ziel dieser Anthologie, authentische Karl-May-Geschichte neu zu erfinden, sondern den damals gefühlten Zauber neu zu entfachen. Jeder Autor sagt auf seine Weise »Danke« an einen der größten Geschichtenerzähler ihrer Jugend.
Dieses Danke drückt sich nicht nur in den Geschichten aus, denn alle Autoren und Illustratoren sind sich einig, dass die Erlöse dieses Buches dem Karl-May-Museum in Radebeul gespendet werden. Dafür möchte ich mich noch mal herzlich bedanken!
Nun bleibt mir nicht mehr, als Sie auf die Reise in einen Wilden Westen zu schicken, den es niemals gab und Ihnen viel Vergnügen zu wünschen!
Reiten Wir!
Alex Jahnke
VORWORT
RUTH ELLEN GRUBER
Ich wuchs im Nachkriegs-Amerika auf, ein Ostküstenkind gefangen in den Fantasien der »Frontier«. Mein Zuhause war in der Nähe von Philadelphia – tausende Kilometer von dem entfernt, was man einst den Wilden Westen nannte. Doch ich wurde verzaubert durch die Westernserien mit Gene Autry, Roy Rogers, Hopalong Cassidy, dem Lone Ranger und vielen anderen. Schon als kleines Kind lief ich mit Cowboyhut und Spielzeugrevolver umher. Meine Mutter (sowie ihre Mutter davor) kamen aus Texas und ich bekam meine erste Cowboyausrüstung als Kleinkind im Kurzwarenhandel meines Großonkels in Baytown, am Golf von Mexiko.
In dieser Hinsicht war ich eines von Millionen Kindern Amerikas – und ebenso Erwachsener. John Wayne hatte seine Hochzeit und Western waren extrem populär. Ich unterschied mich aber in einem wesentlichen Punkt: Als Teenager war ich eine der wenigen Amerikanerinnen, die Karl May kannten und eine der ganz, ganz wenigen – ich gestehe – die sich, wie unzählige europäische Mädchen, in den verträumten französischen Schauspieler Pierre Brice und seiner Rolle als Winnetou verliebten.
In den letzten 12 Jahren forschte ich zu dem Thema, das ich »Imaginary Wild West in Europe« nenne. Eine breitgefächerte Subkultur, welche alles beinhaltet – von Wild-West-Freitzeitparks über Rodeos bis hin zu Trucker-Festivals und der mannigfaltigen Reenactor-Szene. Countrymusik in all seinen Spielarten bildet dazu den Soundtrack. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1999 bezeichnen Edward Buscombe und Kevin Mulroy Amerikas Legende der Besiedlung des Westens als »den am erfolgreichsten vermarkteten Nationalepos in der Geschichte 1« . Jeder hat das Gefühl, ein Teil davon zu sein und in der Tat, die Cowboys, die Indianer, die Weite einer Westernlandschaft, die Schlangenlederstiefel, die schwingenden Saloontüren, die nicht enden wollenden Straßen, das Twang eines Banjos oder einer Steel Guitar: All dies sind direkt wiedererkennbare Symbole voller Subkontexte und Nuancen.
Diese Faszination, wie auch die Entwicklung des Phänomens, hat eine lange Geschichte. Als Buffalo Bill vor mehr als einem Jahrhundert durch Europa zog und dabei selbst die heutige Ukraine erreichte, zog er mit seiner Fleisch und Blut gewordene Verkörperung einer literarischen Fantasie riesige Menschenmassen an. Einige Jahrzehnte früher hatten der »Letzte Mohikaner« und andere Werke von James Fenimore Cooper den europäischen Kontinent im Sturm genommen. Während des 19. Jahrhunderts entwickelte Europa seine ganz eigene Tradition der Wild-West-Literatur. Karl May war der populärste und erfolgreichste Autor dieser neuen Tradition, aber bei weitem nicht der Einzige. Dutzende europäische Autoren schrieben Abenteuer, die im Wilden Westen spielten.
Eines meiner Hauptinteressen in der Erforschung des »Imaginary Wild West« Europas ist die Art und Weise, wie sich die Europäer der amerikanischen Archetypen angenommen und sich diese zu eigen gemacht haben – sei es durch Literatur, Convention oder durch ihre eigenen fiktionalen Heldenfiguren. Der Wissenschaftler Richard Carcroft schrieb dazu: »Andere Nationen haben einen Anspruch auf den amerikanischen Westen, der ebenso bedeutend ist, wie der der amerikanischen Nation selbst 2«
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