Morrison war es schließlich, der unsere entsetzte Starre durchbrach und sich zu dem Skelett hinabkniete. Er fasste beherzt unter den Torso und holte ein Bündel hervor. Motten flogen daraus auf uns zu; es staubte. Ellen trat näher heran und beleuchtete den Fund. Es glänzte silbrig.
Im Halbdunkeln der Laterne erkannte ich, dass es sich um eine Art Truhe handelte; drei löwenartige Kreaturen waren darum angeordnet. ›Shishis‹, erläuterte Ellen: »Wächter, in der Mythologie. Mir scheint, dies ist auch ein Räuchergefäß.« Morrison versuchte vorsichtig, es zu öffnen, doch der Rand war mit Wachs verklebt, sodass wir entschieden, es draußen im Tageslicht zu versuchen, um nichts zu zerstören. Wir bedeckten den Toten mit weiteren Steinen und improvisierten aus ein paar Holzstücken ein Kreuz, damit er wenigstens hier seine Ruhe fand. Ich sprach ein Gebet für die arme Seele. Das mindeste und einzige, was wir als Christen für ihn hier tun konnten.
Ich holte tief Luft, als wir endlich wieder ans Tageslicht kamen. Die Sonne wärmte meine Haut, es roch frisch und lebendig. Ich blinzelte erleichtert gen Himmel, als ich das Klicken eines durchladenden Revolvers hörte und erstarrte. Kyle, jüngster Spross der Jamestons, und sein Bruder Luke standen nicht weit von unseren Pferden und grinsten hämisch. »Schön die Hände hoch, Ladys. Auch Du, George, keine falsche Bewegung, sonst blas ich der hübschen Miss ein Loch in den Schädel. Wirf deine Revolver her zu mir.« Mit wenigen Schritten war Luke bei mir und packte mich, während Morrison seine Smith&Wessons zu den beiden Gangstern schob. »Also, was habt ihr gefunden?« Ich sah aus dem Augenwinkel, dass sie unsere Satteltaschen geöffnet und durchwühlt hatten. Sie hatten den Kranich bereits.
»Also?« Um seine Drohung zu verdeutlichen, drückte er mir ein Messer an den Hals. Morrison spuckte aus und holte dann, keinen der Brüder aus den Augen lassend, den Schatz hervor. »Du da, Miss. Bring es her», fuhr Kyle Ellen an. Die runzelte die Stirn, brachte ihm aber, wie geheißen, die Schatulle. Er packte das Rauchgefäß mit seiner Hand und drehte es im Licht: »Silber. Dann hat sich unsere Reise doch gelohnt!« Er versuchte, es mit einer Hand zu öffnen, während er mit der anderen noch immer Morrison in Schach hielt. Ich konnte sehen, wie er mit sich rang, das Kästchen sogleich aufzubrechen. Da dies nicht gelang, fesselten sie uns an einen der Bäume und wir mussten hilflos mit ansehen, wie sie die Kiste grob mit einem Messer bearbeiteten, um das Wachs herauszubrechen. Kyle packte schließlich den Deckel und zog ihn auf. Der Schatz gab ein seltsames Geräusch von sich, wie von einer Sprungfeder, und Kyle Jameston ließ das Gefäß fallen. Er hielt sich schreiend das Gesicht. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Ellen, die die ganze Zeit schon an unserer Fessel herumgeknotet hatte, streifte sie ab. Morrison sprang sogleich auf und stürzte sich mit blanken Fäusten auf Luke. Ellen hechtete zu den abgelegten Waffen. Kyle griff nach seinem Revolver und schoss halb blind in Georges Richtung. Ich schrie und Kyle schrie und Ellen schoss zweimal. Kyle fiel wie ein nasser Sack zu Boden. Dann lief ich los. Morrison lag auf Luke und ich sah Blut auf seinem Rücken. Gemeinsam mit Ellen hob ich ihn vorsichtig herunter und legte ihn auf die Seite. Jetzt sahen wir, dass in Lukes Brust ein Messer steckte, das George ihm wohl im Gerangel aus der Hand hatte wenden können. Ich hielt seinen Kopf in meinen Händen, während Ellen vorsichtig seinen Rücken betastete und sich die Schusswunde näher ansah. Sie schüttelte unmerklich den Kopf und ich schluckte heftig, um nicht in Tränen auszubrechen. »Was … war … denn jetzt drin?«, flüsterte Morrison. Blut sickerte aus seinem Mundwinkel.
Ellen stand hastig auf und holte das Kästchen. Zuoberst fanden wir eine kleine Vorrichtung, aus der eine sicherlich 5 Inch lange Nadel auf Kyle geschleudert worden war und ihn ins Auge getroffen hatte. Darunter lagen alte, vergilbte Fotos einer japanischen Familie mit vier Erwachsenen und drei Kindern. Sie standen auf einem Bild vor einer Art Hausaltar, die beiden Räuchergefäße vereint. Unter den Fotografien befanden sich, in Stoff eingewickelt, acht walnussgroße Goldnuggets. »Sehr gut», flüsterte Morrison unter Mühen. »Dann bist du gut versorgt.« Er nickte zufrieden und schloss erschöpft seine Augen. Ich hielt ihn während seiner letzten Atemzüge im Arm und schimpfte leise: »George-Harker, wirst du wohl hier bleiben? Das war nicht Teil des Geschäfts.« Dieser stille Mann war mir mehr ans Herz gewachsen, als ich es mir je hatte eingestehen wollen. Ich schluchzte hemmungslos.
Wir begruben ihn unter einem schönen Baum, stellten ein ordentliches Kreuz auf und beteten für seine Seele. Die beiden Jameston-Brüder hingegen verscharrten wir notdürftig. Sollten die Geier sie holen. Das Gold würde mir und den Mädchen zur Unabhängigkeit verhelfen. Ellen und ich beschlossen, die beiden Räuchergefäße nicht mehr zu trennen, sondern sie in der Bank verwahren zu lassen. Ich glaubte mittlerweile, dass von ihnen wirklich ein Fluch ausging und hoffte, dass er aufhörte, nun wo sie vereint waren. Auf den Pferden sitzend, blickten wir noch einmal zurück. Ich hoffte, dies war die Art von Tod, den George sich immer gewünscht hatte. Ich zog den Hut vor ihm. Einen Gentleman machte nicht nur gute Kleidung aus. »Komm, Liebes», meinte Ellen: »Reiten wir!«
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