Seine Eltern bemühten sich um ein Zuhause, das auf Vertrauen, Offenheit und gegenseitiger Wertschätzung basierte und in dem Vater und Mutter jederzeit ansprechbar waren. Wenn Esa doch einmal Mist baute, setzte es keine Strafen, sondern die Angelegenheit wurde in Ruhe ausdiskutiert. Der Junge konnte sich gut alleine beschäftigen. Als Kind reichte ihm die Nähe der Familie, und er forderte keine besondere Aufmerksamkeit. Ein Grund dafür war seine Schüchternheit. Esa klingelte nicht gerne bei anderen. Seine Freunde holten ihn entweder zum Spielen ab oder besuchten ihn zuhause. Der schmale, schnell in die Höhe geschossene Junge fühlte sich in größeren Gruppen eher unwohl und hatte wenig Lust auf gemeinsame Spiele. Vermutlich gerade deswegen hatte er für Einzeldisziplinen wie Taekwondo, Schwimmen und Tennis mehr übrig als für Mannschaftssportarten.
„Ich hab’ alleine Tennisbälle gegen die Wand vom alten Kino Arita in Haaga geschlagen, weil ich keinen Spielpartner hatte. Mit Fußball und Eishockey konnte ich absolut nichts anfangen. Ich schau’ mir heute noch lieber Boxen oder Billard an als Fußball. Obwohl ich für Mannschaftssport nicht viel übrig hab’, ist das Spielen in einer Band irgendwo damit vergleichbar: Alle ziehen an einem Strang, die Leistung des Einzelnen ist nicht so wichtig, sondern das ganze Paket muss funktionieren. Am meisten bewundere ich Ausdauersportler und ihre Mentalität, das ist absolute Spitzenklasse. Kampfsportarten bieten im Prinzip denselben Reiz wie Gigs: Adrenalin. Wenn du mit einem Sparringpartner trainierst, kannst du eins auf die Nase kriegen. Das gibt dem Ganzen mehr Spannung und eben diesen zusätzlichen Adrenalinkick.“
Esa lernte mit fünf Jahren lesen und brachte aus der Stadtteilbücherei zunächst Lucky Luke, Asterix und Tim und Struppi mit nach Hause. Später folgten Abenteuer und Fantasy, unter anderem Die 3??? von Robert Arthur, J.R.R. Tolkiens Herr der Ringe und Unten am Fluss von Richard Adams. Alte Volkssagen faszinierten ihn schon als Kind. Dass AMORPHIS sich später lyrisch vom Kalevala -Epos inspirieren ließen, erscheint ihm gewissermaßen als logische Fortsetzung.
Der Junge interessierte sich für Spiele, die Köpfchen erforderten, und zeigte schon früh eine künstlerische Ader. Zeichnen und Malen machten ihm so viel Spaß, dass er in der Schule Kunst statt Musik wählte und von einer Karriere als Werbegrafiker träumte. Er fand es inspirierend, mit eigenen Händen Kreatives zu schaffen, und hatte obendrein Talent. Noch heute zeichnet er oft Karikaturen seiner Bandkollegen, wenn ihn im Tourbus die Langeweile überkommt.
Der Mittelpunkt seines Lebens war sein zuhause, aber sein Lieblingsort war das Sommerhaus in Sahalahti bei Kangasala, wo die Familie seit den fünfziger Jahren ein Grundstück besaß. Das Strandidyll war weit weg vom Stadtleben und somit eine ganz andere Welt. Die Natur faszinierte die „Künstlerseele“ des Jungen schon früh, wie sich Mutter Marja erinnert. Er erforschte Umgebung und Pflanzenwelt mit allen Sinnen. Das Sommerhaus ist heute noch sein liebster Zufluchtsort – nicht zum Komponieren, sondern zum Entspannen.
Bei den Holopainens lief oft Musik, vor allem Jazz. Marja und Seppo verfolgten im Fernsehen die Festivalübertragungen von Pori Jazz und alles, was mit dieser in den zwanziger Jahren in New Orleans aus dem Blues geborenen Mischung europäischer und afrikanischer Musiktraditionen zu tun hatte. Esa begann schon als Dreijähriger, seinen eigenen Geschmack zu entwickeln. Auf Kinderlieder folgten Michael Jackson und der finnische Schlagersänger Fredi. Mit sechs fand er Elvis toll und zwei Jahre später ABBA. Jazz konnte er nicht ausstehen.
Holopainen mit vier Jahren im Sommerhaus in Sahalahti
„Ich kann mich nicht daran erinnern, dass meine Eltern je etwas anderes gehört hätten als Jazz“, überlegt Esa. „Ein paar Klassikscheiben hatten wir wohl, aber hauptsächlich lief Miles Davis und so was. Meine frühesten musikalischen Erinnerungen hängen mit unserem Klavier zusammen. Meine Mutter versuchte, mir ein bisschen darauf beizubringen. Bei der Gitarre ist eine gewisse Synchronisation erforderlich, damit überhaupt was zu hören ist, aber das Klavier liefert dir auf Anhieb Feedback.“
Laut seiner Mutter konnte Esa gut singen und seine Stimme war „so klar und schön, wie sie bei einem kleinen Jungen nur sein kann.“ Oft spielte Marja auf dem Klavier Kinderlieder, die Esa mit heller Stimme mitsang. Als es ihn später ernsthaft zur Musik zog, wunderte sich seine Mutter oft, warum er nicht mit dem Singen weitermachte.
Bevor die Musik für ihn zur Hauptsache wurde, erhielten Bücher und Pinsel eine andere Konkurrenz: den Commodore 64. Der 1982 lancierte und bald äußerst populäre Heimcomputer bot mit seinen primitiven, aber süchtig machenden Spielen eine Art interaktive Fortsetzung der Abenteuerromane. Die Holopainens waren um 1980 herum aus ihrer Zwei- in eine Dreizimmerwohnung etwa einen Kilometer weiter nördlich umgezogen. Der Sohnemann bekam ein eigenes Zimmer, in dem er sich ungestört in seine virtuelle Erlebniswelt vertiefen konnte. Je spannender das Spiel, desto besser. Sein Favorit war Forbidden Forest (Cosmi Corporation, 1983), in dem sich die Spielfigur mit einer Armbrust bewaffnet durch einen Wald voller Monster kämpfen musste.
„Die frühen Commodore-Spiele hatten unheimlich spannende Soundtracks, so simpel sie ansonsten waren. Manchmal jagte einem schon die Musik Angst ein. Sie sorgte für das richtige Feeling“, erinnert sich Esa. „ Forbidden Forest hatte mit seiner Horrorszenerie aus Pixelfiguren eine Atmosphäre, die dich einfach packte.“
Zwar hatte Holopainen schon als Kind viel Musik gehört, doch als er 13 war, schlug das unverbindliche Interesse unversehens in Leidenschaft um. Im Jahr 1985 waren die Softrocker DINGO aus der Kleinstadt Pori die beliebteste Band in Finnland, während sich ihre Landsleute von HANOI ROCKS international einen Namen machten. Gleichzeitig rückte Heavy Metal ins weltweite Rampenlicht, dank Megasellern aus England, Deutschland und den USA. Das Internet war noch weit entfernt, aber bei der Suche nach neuen Lieblingsbands halfen Zeitschriften, die Musikabteilung der Bücherei, die Plattenregale von Freunden und die wöchentliche Hitparade im Staatsfernsehen. Dort wurden ohne Vorurteile „Jugendmusikvideos“ gezeigt, darunter manchmal sogar Metal.
Holopainen mit zwölf Jahren im Sommerhaus.
Ein Jahr später geriet die Musik in sein Visier.
In der Gesamtschule Haaga war es nichts Ungewöhnliches, dass die Kids eigene Schallplatten in die Musikstunde mitbringen und der Klasse vorstellen durften. Eines Tages im Jahr 1984 hatte Holopainens Klassenkamerad Miika Savi das neue DEEP PURPLE-Album Perfect Strangers dabei. Die Nadel senkte sich, das Vinyl knisterte und Knocking At Your Back Door begann mit einem düster verzerrten Riff aus John Lords Hammond. Hinzu kam Roger Glovers Bass, dessen Dramatik einem Actionfilm Ehre gemacht hätte. Das hypnotisch pulsierende G glich einem angsterfüllten Herzschlag. Ian Paice setzte mitten im Takt ein und leitete auf das Hauptriff über, das von Lord und Richie Blackmore im Duett gespielt wurde. Als Ian Gillan die ersten Zeilen schmetterte, wusste der Siebtklässler, wo seine Bestimmung lag.
„ Knocking At Your Back Door war der Startschuss. DEEP PURPLE war die erste Band, für die ich mich richtig begeistern konnte. Davor hatte ich schon IRON MAIDEN und so weiter gehört, aber eher deswegen, weil meine Kumpels die auch hörten. MAIDENs Powerslave (1984) kam etwa zur gleichen Zeit raus, aber Perfect Strangers hinterließ einen bleibenden Eindruck“, erinnert sich Holopainen.
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