Anderentags fragte mich Karim, warum ich vergangene Nacht nicht zu ihm kam und ich antwortete: „Aus Respekt vor deinem Besuch.“ „Aber mein Bruder bald weg, warum nicht später kommen? Woher sollte ich wissen, dass es sein Bruder war und wann der Besuch weg ging? Ohnehin war ich sauer, wegen der vergeudeten Nacht und jetzt auch noch seine Vorwürfe. „Warum du nicht kommen?“, gab ich brüsk zurück. Er verstand nicht, das war deutlich zu spüren. Irgendetwas passte nicht. Auf einen Wink von ihm setzten wir uns abseits der Touristen und er sagte mir, dass er große Probleme habe. Auf der uns vorangegangenen Fahrt zu den griechischen Inseln war plötzlich ein starker Sturm aufgekommen, der die Takelage und so ziemlich alles zerfetzt hatte, was soeben erst teuer erstanden wurde. Außerdem wären das Getriebe und irgendwas mit dem Anker kaputt gegangen. Dringende Renovierungs-Arbeiten wären der Grund für unser verspätetes Übersiedeln an Bord gewesen. Jetzt verstand ich seine gestrige Panik um den aufkommenden Sturm sowie sein Umsiedlungsmanöver in eine sichere Bucht. Nach einem Bad, ins türkisblaue Meer, das wir in zauberhafter Umgebung nahmen, zog ich mich gerade um, als es plötzlich an der Kabinentüre klopfte. Karim stand, wie ein kleiner Junge dreinblickend, vor mir und sagte: „Ich Hunger.“
Das musste wohl so sein, denn er war noch nie in unserer Kabine. Schnell, zu schnell? Fegte ich die auf dem Bett ausgebreiteten, in Marmaris neu erstandenen Klamotten weg, und ab ging die Post, bis der Hunger gestillt war. Dabei mussten wir sehr vorsichtig sein, da sich vor meinen kleinen Guckfenstern die Trittleiter befand, an der nun auch die übrigen Passagiere zurückkamen. „Für wen du diese kaufen?“ Fragte er, nach den Artikeln auf dem Bett deutend. „Ich gesehen, niemand kaufen soviel, nur du viele Taschen.“
Die Sachen waren für Ali, meinem kurdischen Bekannten, der nicht mehr in die Türkei durfte, und wider Willen log ich, dass sie für meinen Sohn bestimmt wären, was er nicht glaubte, das konnte ich ihm ansehen. „Ich nix?“ Fragte er, und da holte ich eine, im Flugzeug erstandene, hübsche Gebetskette hervor und übergab sie ihm. Jetzt hatte dieser Kauf seine Bestimmung erhalten, dachte ich. Erstaunt blickte er darauf, erkannte die schöne Arbeit in Blau und Silber und trug sie von nun an, wie ein Amulett, in seiner Hosentasche, um damit rumzuspielen.
Wir relaxten an Deck, wobei wir schon seit längerem vom Stewart, dem stillen, äußerst gut aussehenden Mann, beobachtet wurden. Er war so undurchsichtig, dass Sophia und ich uns keinen Reim auf ihn machen konnten. Bis heute hatte er mit niemandem ein Wort gewechselt, außer meiner beschriebenen Befragung. Ich erinnerte mich jedoch, am Tag des starken Windes mein Buch gesucht zu haben, das ich unter der Matratze gesichert hatte. Es handelte sich dabei um das Kurdenproblem in der Türkei, von Mehdi Sana. Da es in der Türkei verboten war, war mir die Brisanz klar. Jedenfalls fand ich es nach langem Suchen, das er mit seinen Blicken verfolgte, wieder, indem er auf eine Stelle, nahe der Navigation, wies.
„Du lieben Kurden?“ fragte Karim, der plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war, wiederum war mir nicht wohl dabei; fragte aber tapfer zurück: „Weißt du, was mit Kurden passiert, in eurem Land?“ „Die selber Schuld, Türkei freie Land, wir Demokratie haben“, es hörte sich an wie Democrazie, und weiter, „seit Atatürk!“ Seine Antwort duldete keinen Widerspruch, deshalb sagte ich ruhig aber bestimmt: „Demokratie bedeutet für mich, dass ich frei entscheiden kann, wo ich leben will, und überall hin reisen, wonach mir der Sinn steht.“ Da war er wieder, dieser unbestimmte Machtkampf zwischen uns. Unter diesen Umständen sollte er nichts erfahren, von „meinem Kurden“, den ich hier kurz beschreiben möchte:
Tatsächlich hatte ich, aus Istanbul kommend, durch einen früheren Kollegen meines Mannes, in einem Straßencafe, seinen Freund kennen gelernt. Er hieß Ali, war sehr jung, und gewährte mir einen einzigen Blick, ehe er sich verabschiedete. Froher Dinge hatte ich von meinen Erlebnissen aus der Türkei erzählt, denen er aufmerksam lauschte. Zufällig begegneten wir uns einige Zeit später auf einer belebten Einkaufs- Strasse wieder. Wir plauderten belanglos und da er den gleichen Weg hatte, lud ich ihn, ich tat das normalerweise grundsätzlich nicht, in meinen Garten ein. Er war mein erster fremder Gast. Es war ein heißer Sommertag und Ali konnte Reden wie Gianni, nämlich unaufhörlich. Überhaupt erinnerte er mich in seiner Art sehr an meinen Mann, seine grazile Figur tat das übrige dazu. Nun, er sprach nicht nur wie ein Wasserfall, sondern hatte auch wirklich was zu sagen: Schnell stellte sich heraus, dass er durch Asyl deutscher Staatsbürger wurde und natürlich war ich an seiner Lebensgeschichte interessiert, die spannender nicht sein konnte. Menschen haben mich noch nie interessiert, ausschließlich ihre Biographien, und seine war hoch interessant. Wir kochten zusammen und unterhielten uns bis tief in die Nacht. Es zeigte sich, dass er bei einem mir bekannten Italiener zur Miete, in bevorzugter Lage, wohnte, unweit meiner früheren Wohnung. Mein täglicher Weg zum Friedhof führte daran vorbei und so sah ich ihn zufällig kurz darauf, als er gerade sein Fahrrad besteigen wollte. Er lud mich ein, seine Wohnung anzuschauen und ich war angenehm überrascht. So ging das hin und her und nach einigen Wochen der Vertrautheit landeten wir beide unversehens im Bett. Sein Sex war sehr phantasiereich und erschreckend dynamisch – eben jung. Der erste Mann nach meinem geliebten verstorbenen. Eine einschneidende Wende meines Eremitendaseins hatte begonnen. Ich genoss seine nächtelangen Unterhaltungen, zumal mir bewusst wurde, die vergangenen zwei Jahre kaum mit jemand ein privates Wort gewechselt zu haben. Manchmal blieb er, was nicht einfach war, da ich zu diesem Zeitpunkt früh aufstehen und zur Arbeit musste; er dagegen hatte Schicht - auch eine Gemeinsamkeit zu meinem Verstorbenen.
Durch ihn bekam ich Einsicht in die Problematik der Kurden in der Türkei. Heute sind sie zwar eine Nation, ich vergleiche sie jedoch mit den Migranten, die eine deutsche Staatsbürgerschaft übernommen haben. Die Worte meines Mannes fielen mir dabei ein: „Was deutscher Staatsbürger, ich bin stolzer Italiener; mein Herz immer Italiener, egal was steht in Pass.“ So einfach ist es eben nicht mit der Staatsbürgerschaft, auch nicht nach 40-jährigem Leben in Deutschland, das so viele diskriminierende Erlebnisse kannte, und eine Zugehörigkeit nicht aufkommen ließ. In seiner Zeit waren Italiener Spaghettifresser und so wurden sie auch behandelt. Als die Deutschen Spaghetti mit zugehörigem Ambiente lieben lernten, kam der Neid dazu, was die Sache nicht einfacher machte. „Wir haben die Arbeit, und ihr die Sonne“, musste er sich regelmäßig nach Urlaub-ende, sowohl in der Firma als auch von seinen lieben Nachbarn anhören, den mitgebrachten Wein und andere Leckereien wie Käse, Salsicce, Mandorle, gerne in Empfang nehmend. In einem anderen Land bist und bleibst du ausgegrenzt, eben Ausländer. Dennoch lobte er „mein Land“ und „seine Welt-Firma“ bei jeder Gelegenheit, was ich nie verstand und schon gleich gar nicht nachvollziehen konnte.
Zurück auf das Boot. Der Abschied rückte immer näher und es kam der Augenblick, indem Karim die Pässe austeilte. Wir, Sophia und ich, befanden uns im Privatbereich der Crew, die ebenfalls anwesend war und, die Trinkgelder verstauend, zufrieden dreinblickte. Ein letzter Raki sollte unseren Abschiedsschmerz lindern. Als ich an der Reihe war, las Karim laut meinen Namen und Adresse vor. „Die sowieso nicht mehr heiraten“, sagte er in die Menge, „die jetzt Witwenrente genießen.“ In diesem Moment überkam mich ein Gefühl der unendlichen Freiheit. Zum ersten Mal wurde mir meine positive Situation einer Witwe klar. Ich stieg auf die Bank, streckte die Arme aus, gleich einem Vogel, und schrie: „Ich bin frei!“ Im selben Augenblick spürte ich seinen hypnotischen Blick, er legte imaginär ein Gewehr zum Schuss an, und ein unsichtbares Lasso legte sich um meine zum Flug ansetzenden Fesseln. Ich war schlagartig ernüchtert. „Jetzt habe ich alte Boot und alte Frau“, setzte er vor seiner Crew hinzu, und es klang überhaupt nicht diffamierend sondern wie ein Bekenntnis, eine Feststellung; die niemanden erstaunte, außer mich. Um es ihm heimzuzahlen, verlangte ich sein T-Shirt, das voller Maschinenöl und reichlich verschwitzt war. Er verneinte, eine Schmach für mich. Von oben herab fragte er mich vor allen: „Was du machen mit meine T-Shirt, du schlafen damit?“ „Nein“, antwortete ich, „ich Wudu machen.“ Reichlich erbost fragte ich Sophia, woher er denn seine Informationen über mich hätte. Sie sagte, dass er sich bei ihr über mich erkundigt habe.
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