Frau Annette seufzt. Hans-Peters Gesicht verfinstert sich. Und Clarissa ahnt, dass das, was jetzt kommen wird, ja kommen muss, das, was die Frauen so fürchten: Geschäftliches!
In den Wirren der Inflation verlor der Papa das gesamte Gut mit all seinen Gebäuden, Wäldern, Ländereien und dem Vieh. Es verblieb ihnen fast gar nichts. Jetzt besitzt man nur noch dieses riesige Stadthaus, aus dem aber die Freude ausgezogen ist. In früheren Zeiten lachten alle und unterhielten sich angeregt bei den Mahlzeiten. Jetzt herrschen nur noch Mutlosigkeit und Traurigkeit und es wird lediglich vom Sparen gesprochen: weniger Fleisch, keine Butter, nicht so viel Strom zu verbrauchen, nicht so viele Kohlen zu verheizen … Gelegentlich scheint es, als ob man die Sorgen vergessen hat und es belebt sich die Unterhaltung. Wenn aber jemand das leidige Wort „Geld“ ausspricht – dann passiert es: Alle verharren mit betrübten Gesichtern.
Geld, Geld! Gibt es denn auf dieser Welt nichts Wichtigeres als Geld? Beklommen stellt sich Clarissa selbst diese Frage.
Der Papa erwähnte soeben die Bankwechsel. Niemand hat jetzt noch Appetit.
Clarissa versucht die Situation zu retten, das Gespräch in andere Bahnen zu leiten: „Heute gab ich meinen Schülern die Aufgabe, eine Landschaft mit einem Haus …“
Niemand hört ihr zu. Anscheinend hat der Papa lediglich das Wort „Haus“ wahrgenommen, weil er sofort die Tochter unterbricht, indem er bemerkt: „Wenn ich schließlich und endlich wenigstens dieses Haus retten kann, dann wäre ich schon sehr zufrieden …“
Er schiebt den Suppenteller von sich. Tante Therese zählt zwanzig Lebertropfen auf einen Suppenlöffel.
„Lene, servieren Sie jetzt bitte den Hauptgang“, sagt Frau Annette.
An der Wand hängt in einem versilberten Rahmen eine Kopie des „Letzten Abendmahls“ von Leonardo da Vinci. Brot und Wein. Clarissa wirft ihren Blick auf das Bild und vertieft sich in ihre Gedanken … Plötzlich hat sie den Eindruck, als ob Jesus sie vom Bild herab etwas spöttisch anblicke und ihr sagen wolle: „Wir zwei sind uns wohl nicht so ganz einig, nicht wahr, Clarissa?“
Clarissa betritt den geräumigen Salon, die gute Stube, die den bedeutenden Besuchern des Hauses vorbehalten ist. An der Wand hängt oberhalb des breiten Kamins das riesige Portrait des Urgroßvaters: In voller Größe steht der Held des Deutsch-Französischen Krieges von 1870 bis 1871 da, gekleidet in seine Galauniform mit goldenen Achselklappen, die Brust mit Orden behängt, die Hände in weiße Handschuhe gehüllt. Eine davon umfasst den Griff des mächtigen Kavallerie-Säbels. Das strenge Gesicht des Generals ist von buschigen, schneeweißen Koteletten umrahmt.
In der Stube herrscht Dunkelheit. Seit ihren Kinderjahren hat Clarissa dieses Bild immer wieder betrachtet. Der Papa erzählt viele Geschichten über den General, der ein sehr gerechter und sparsamer Mensch, Wohltäter der Armen, guter Herr seiner Knechte und Tagelöhner war. Er dichtete Sonette, spielte die Geige, hielt jeglichen Verdruss von seinem Hause und den Seinen fern; er war Seiner Majestät, dem Kaiser, wohlbekannt, kämpfte wie ein Löwe unter General von Moltke bei der Belagerung von Metz und fiel ehrenhaft für das Vaterland auf dem Schlachtfeld von Sedan.
Clarissa kennt diese Geschichten auswendig. Aber als sie noch klein war, ging sie nie allein in diese Stube, vor allem nicht, wenn es dunkel war. Dieses verschlossene Gesicht und die riesige, von Gold bedeckte Gestalt flößten ihr ungeheure Furcht ein. Und wenn plötzlich der General aus dem Rahmen spränge, mit dem blanken Säbel in der rechten Hand durch das Haus liefe, Stühle umwerfend, Porzellan zertrümmernd, Menschen tötend? Clarissa betrachtet das Ölgemälde des Urgroßvaters. Obwohl sie jetzt eine erwachsene junge Dame ist, kann sie das Quäntchen Angst nicht unterdrücken, das sie noch empfindet: Ihr ist bange vor diesem brummigen Riesen mit der mächtigen Gestalt …
Die Stube hat einen ganz besonderen Duft. Als Clarissa noch klein war, dachte sie, dass der merkwürdige Geruch von diesem Gemälde ausginge. Auch heute besteht bei ihr noch dieser Eindruck, wenn auch in abgeschwächter Form. So sehr sie sich auch darum bemüht, gelingt es ihr nicht ganz, diese Empfindung loszuwerden.
Sie öffnet ein Fenster: Die Nachmittagssonne strömt herein und erleuchtet das Portrait des Generals. Die brüchigen Stellen am bemalten Gewebe werden sichtbar, die güldenen Achselklappen, Litzen, Knöpfe und Orden glänzen jetzt besonders. Der gesamte Salon offenbart dem starken Licht mit einem Mal seine Geheimnisse: die alten Möbel aus dicker Eiche, der gepolsterte Diwan, die hübsche Obstschale aus bemaltem Ton in der Mitte des mit rotem Samt bedeckten, ovalen Tisches. An der Wand das Bild der Großmutter Henriette; der ovale Spiegel in dem dicken, mit schwungvollen Ornamenten übersäten Rahmen.
Der Papa wiederholt immer: „In diesem Salon war einmal der Kaiser zu Gast, als er noch König von Preußen war.“ Kater Moritz jedoch ignoriert dies gänzlich und zollt der Erinnerung an den hohen Besuch keineswegs den gebührenden Respekt. Clarissa blickt erstaunt auf den Boden, auf den kleinen, dunklen See, in dem die Sonne kleine Feuersterne malt. Dieser Schurke! „Kathrein“, ruft sie, „komm schnell und sieh dir an, was der ungezogene Moritz in der Stube hinterlassen hat!“
Clarissa öffnet den grünen Deckel ihres Tagebuches und schreibt: Ich möchte Dir, liebes Tagebuch, alles anvertrauen, alles, was ich fühle, alles, was ich denke. Obwohl man ja eigentlich nie alles niederschreibt, was man wirklich denkt. Warum ist es so, dass wir nur im tiefsten unserer Gedanken absolut ehrlich sind?
Ich muss mich mit Dir unterhalten, ich habe sonst niemanden, dem ich meine Gedanken anvertrauen kann. Meine Lehrer-Kollegen an der Schule mögen mich nicht sehr (ich weiß nicht wieso!). Die Einzige, mit der ich mich unterhalte und die mich gelegentlich aufsucht, ist Heike.
Mit dem Tagebuch ist es so, als ob ich mich mit mir selbst unterhalte. So gewinne ich eben den Eindruck, dass ich nicht so allein bin.
Was kann ich sonst noch erzählen? Heute ist ein wunderschöner Herbsttag, richtiger Altweibersommer. Im Garten vorm Haus blühen die Astern. Schande! Eine Lehrerin, die „vorm“ sagt! Es heißt doch richtig auf Hochdeutsch „vor dem Hause“. Das hört sich ganz besonders pedantisch an … Warum schreiben die Leute nie so, wie sie wirklich sprechen? Na, macht ja sowieso nichts, niemand wird je mein Tagebuch lesen. Und wenn ich sterben sollte? Wenn ich sterbe, dann wird die Mama nach der Beerdigung, ganz in Schwarz gekleidet, hier hereinkommen, um meine Sachen zu ordnen. Stell dir vor, sie findet dieses Tagebuch, öffnet es, liest darin und erfährt so alle meine Geheimnisse!
Nein, nur das nicht! Ich muss dieses Tagebuch vernichten, bevor ich sterbe. Das Schlimme ist, dass man nie genau weiß, wann einem die Stunde schlägt.
Wie ich schon sagte, blühen in unserem Garten vor dem Hause die Astern neben dem Fliederbaum. In der Frühe zwitschern die Vögel und machen einen Heidenradau. Wenn ich richtig malen könnte, würde ich gern unseren Garten malen.
Heute war ich in der Stube. Ich habe wieder das Gleiche gefühlt wie früher, als ich noch klein war. Als ich das riesige Bild meines Urgroßvaters ansah, hatte ich den Eindruck, dass er plötzlich aus dem Rahmen springen und hinter mir herrennen würde. So ein Blödsinn! Ein Bild ist ja nur ein Bild. Wenn die anderen von meinen Ängsten wüssten, würden sie mich ganz schön auslachen! Aber das ist eben, was ich fühle. Ich darf nicht lügen, wenigstens darf ich mich nicht selbst belügen.
Gestern Abend war ich unten, mit den Verlobten. Tante Therese und ihr Hein sagen sich immer dasselbe. Als ich sechs Jahre alt war, versprach Hein ihr die Ehe, kam fast jeden Abend zu uns, um sich mit ihr zu unterhalten, und ich saß oft auf seinem Schoß. Er brachte mir immer Bontjes mit – und ab und zu ein Malbuch. Damals sollte nach einem Jahr die Hochzeit stattfinden. Heute, viele Jahre später, sind Tante Therese und Hein immer noch Verlobte, sitzen stets am gleichen Ort in der Stube und aus der Hochzeit ist bis jetzt nichts geworden. Hein Piepenbrink ist ein sehr witziger Mensch. Er kann das „r“ nicht richtig aussprechen, meistens verschluckt er die Worte mir „r“, damit man es nicht so „meakt“. Sein Gesicht ähnelt einem Kürbis (ich weiß nicht wieso, ich habe mir immer ein Kürbisgesicht so vorgestellt). Hein Piepenbrink – sogar sein Name ist ulkig. Er passt so ganz und gar zu ihm. Als er damals zu uns kam, wurde mir sein Name beigebracht, ich musste ihn immer wieder aufsagen und sollte ihn mit vornehmer Stimme aussprechen. Am Abend, als er dann kam, kriegte ich dabei einen solchen Lachanfall, dass ich trotz aller Bemühungen um Beherrschung nichts weiter als „Hein Piep-pieppiep-piep“ herausbrachte. Er wurde vor Verlegenheit ganz rot und Tante Therese zog mich an einem Ohr aus der Stube. Draußen kriegte ich noch einen Klaps auf den Hintern.
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