Der Drachen aus rotem Backstein mit den zwanzig Augen seiner Fenster wohnt auf einem Hügel. Zu seinen Füßen liegt Oldenmoor in der strahlenden Mittagssonne: Die vielen dunklen Reetdächer, vermischt mit hell- und dunkelroten Dachpfannen, kontrastieren mit dem bereits herbstgefärbten Laub der Bäume, mit den abgeernteten und längst wieder gepflügten Feldern, mit dem Grün der Tannen und Fichten. Die mit Katzenköpfen gepflasterten Straßen sehen aus wie dunkle Narben im Körper der Kleinstadt. Hoch über den Dächern ragt der mit Grünspan überzogene Kirchturm auf dem Marktplatz hervor.
Clarissa wartet auf Heike. Während des Wartens denkt sie nach. Wenn die Felder ein Meer wären – die durch die Entwässerungsfleete durchzogene Marsch besteht eher mehr aus Wasser als aus Land –, dann wäre Oldenmoor eine Insel. Eine verlorene Insel. Ein kleines Eiland mit eigenartigen, komischen Bewohnern. „Onkel“ Suhl, Hein Piepenbrink, Herrn Johansens Tanzkapelle, das Colosseum, der „Bildpalast“ – Herrn Ehlers’ Kino, das Café Petersen am Marktplatz …
Heike unterbricht Clarissas Gedankenausflug: „Wollen wir, Clarissa?“
„Ja, lass uns gehen!“
Gemeinsam gehen sie den Weg von der Schule hinunter in die Stadt. Heike, mit ihrer verbogenen Brille auf der roten, glänzenden Nase, beschwert sich unaufhörlich über ihre Klasse. Diese unruhigen, geschwätzigen, schlecht erzogenen Gören! Nicht zum Aushalten! Sie hat eine metallische Stimme, die sich anhört wie energische, rhythmische Hammerschläge. Sie spricht mit einem autoritären, belehrenden Gehabe, das manchen von denen, die immer unterrichten, so eigen ist. Stets sitzen ihre Strümpfe schief – Wollstrümpfe, dünne Beine, ausgetretene Schuhe. Trotzdem, Clarissa mag sie. Sie ist ihr die liebste ihrer Kollegen. Nicht eingebildet, gerade heraus, einfach. Und außerdem verlangt sie nicht einmal, dass man viel spricht: Sie sprudelt einfach los, und es stört sie nicht im Geringsten, wenn man ihr weder zuhört noch antwortet.
„Das Pensum ist ein Wahnsinn! Das Schuljahr ist viel zu kurz, um das alles zu schaffen!“ Sie spricht mit übertriebenem Staccato, als ob sie unsichtbare Nägel in die Luft einschlagen wolle. „Ich möchte gern denjenigen sehen, der das alles schaffen kann!“
Heike spricht weiter, ohne nach rechts oder nach links zu sehen, so als ob sie sich bei den Wolken beschweren wolle. Clarissas Gedanken wandern auf eigenen Wegen.
Die beiden Freundinnen biegen in die Deichstraße ein. Mit lautem Geratter fährt ein Automobil an ihnen vorbei. Ein Hund hebt das Bein und hinterlässt flüssige Arabesken an einem Lichtmast. Die Sonne wird von einer dicken Wolke verschluckt. Sie gehen weiter. Die blitzblanken Glasfenster der Häuser glitzern in der Sonne, die jetzt wieder vom blauen Himmel herunterscheint.
„Hast du die neuen Hüte im Modehaus Suhr gesehen?“
Clarissa schüttelt den Kopf: Sie hat nicht. Sollte etwa Heike diese komische neue Mode mögen, mit dem winzigen Kopfteil und den riesigen, weit herabhängenden Krempen, diese Hüte, die man so ganz hoch oben auf dem Scheitel trägt? Nein, nicht möglich! Heike trägt immer nur Baskenmützen. Einfach und billig.
Sie gehen jetzt schweigend nebeneinander her. In der Rathausstraße begegnen sie mehreren Passanten, die man gewohnheitsmäßig grüßt und die ebenso automatisch zurückgrüßen. Gegenüber dem Colosseum steht Frisör Johansen, der auch die Tanzkapelle leitet, vor seiner Tür und blättert in der Lokalzeitung. Sie sind an Heikes Wohnhaus angelangt.
„Tschüss!“
„Tschüss!“
Sie geben sich einen Kuss. Heike hat diese ekelige Angewohnheit, auf den Mund zu küssen. Clarissa muss sich zusammennehmen, um ihren Widerwillen zu verbergen.
In der Kaiserstraße kommt sie am Haus von Harald Suhl – „Onkel Suhl“ – vorbei, das hellbraun getünchte Gebäude mit dem spitzen Giebel, an dessen Obergeschoss der kunstvoll aus Eisen geschmiedete, grün gestrichene Balkon mit den schönen weißen Schwänen hervorragt. Und oben auf dem Dachfirst die Windfahne mit dem dürren, schwarzen Wetterhahn. Wie viele Erinnerungen sind mit diesem Hause verbunden! Als sie noch ein kleines Mädchen war, kam Clarissa eines Abends dort hin, um mit ihren Spielkameraden durch das Teleskop von Onkel Suhl zu schauen, eine von Grünspan überzogene Metallröhre. Der Alte mit seiner brüchigen Stimme gab seltsame Sprüche von sich, die niemand so recht verstand, lutschte ständig Pfefferminz-Pastillen und trug eine kleine Wollmütze auf dem kahlen Kopf.
„Kommt her, ihr dürft durch das Teleskop gucken“, lud er die Bande ein und knurrte wie ein misstrauischer, junger Hund.
Clarissa schaute durch das Okular des Rohres. Onkel Suhl erklärte alles: „Der Mond ist ein Satellit der Erde. Was du da gerade siehst, sind die Krater der erloschenen Vulkane auf der Mondoberfläche …“
Was Clarissa in Wirklichkeit sah, war irgendetwas Weißliches, Undeutliches und Undefinierbares.
„Hast du auch die Berge bemerkt?“, fragte er mit eigenartiger Stimme. „Und auch die Seleniten, die Mondmenschen?“
Clarissa hatte Angst vor Onkel Suhl. Sie bejahte, nur damit er nicht ärgerlich wurde. Aber Vetter Heiko lachte frech in das Gesicht des Alten: „Ach was! Nix ist da zu bemerken! Dein Periskop taugt nix, Onkel Suhl!“
„Du Lump!“, fuhr ihn der Alte an, in einem Ton zwischen Entrüstung und Belustigung.
Sie zuckte zusammen. Was für ein furchtloser Knabe war doch der Heiko. Er hatte tatsächlich den Mut, dem Onkel Suhl zu widersprechen …
Danach stieg die ganze Bande die dunkle Stiege hinab. Aufgescheuchte Mäuse huschten an ihnen vorbei. Auf dem Schreibtisch dieses seltsamen Alten lag ein furchterregender Totenkopf. Clarissa schloss fest ihre Augen und eilte an diesem vorbei. Ach! Dieses obere Stockwerk war doch sehr geheimnisvoll!
Während Clarissa weitergeht, wandern auch ihre Gedanken. Junge Menschen lernen, durch Studium und Bücherlesen vieles besser zu verstehen. Eigenartigerweise fühlen sie später trotzdem oft noch genau dasselbe, was sie schon als Kinder einmal empfanden. Manche Eindrücke sind auch durch den gereiften Verstand nicht zu verdrängen … So behaupten wir zum Beispiel, dass wir nicht an Geister glauben. Aber die Wahrheit ist doch, dass wir nicht ohne eine gewisse Angst ein dunkles Zimmer betreten oder an Spukhäusern oder am Kirchhof rasch vorbeieilen, ohne hinzusehen …
Das Lenchen serviert das Mittagsmahl. Sie bringt die Suppenterrine auf einem Tablett herein. Mit ihrem ergrauten Haar und ihrer weißen Küchenschürze um die volle Taille erinnert sie Clarissa an eine Reklame für Scheuermittel, die sie in einer Zeitschrift gesehen hat: „Ich putze meine Töpfe nur mit Blitzblank!“
Der Papa sitzt an seinem angestammten Platz. Er bindet sich eine Serviette um den Hals, nachdem er damit – unausbleiblich! – sorgfältig seinen Löffel geputzt hat, und hüstelt.
Die Mama hebt den Deckel der Terrine an. Dampf steigt in die Luft und verbreitet einen appetitlichen Duft. Frau Annette taucht die silberne Suppenkelle in die Schüssel. „Suppe, Hans-Peter?“
Der Gatte nickt.
„Auch du, meine Kleine?“
„Ja, bitte.“
Tante Therese mit ihren großen, rehbraunen Augen in dem gelblichen Gesicht versichert, dass sie keinen Hunger habe und lehnt dankend ab.
„Vergiss deine Lebertropfen nicht, Schwester.“
Tante Therese ist die Schwester der Mama. Seit zwölf Jahren ist sie mit Hein Piepenbrink verlobt. Die ganze Familie fragt sich: „Also, wann wird nun endlich geheiratet?“ Der Bräutigam beteuert immer wieder, dass er sofort heiraten werde, wenn man ihm endlich die versprochene Gehaltsaufbesserung auszahle; diese jedoch lässt schon sehr lange auf sich warten. Und so vergeht ein Tag nach dem anderen.
„Heute habe ich wieder mit der Bank verhandelt“, klagt Hans-Peter. „Ich kriege schon graue Haare wegen dieser verwünschten Wechsel …“
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