Seine weitere ärztliche Ausbildung (Facharzt, Promotion und Subspezialisierung) erfolgte an der Klinik für Chirurgie der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Hier arbeitete er siebzehn Jahre lang als wissenschaftlicher Assistent und eröffnete nach der Wende eine eigene Praxis für Chirurgie und Unfallchirurgie. Aus gesundheitlichen Gründen musste er diese im Jahr 2008 an seinen Sohn übergeben.
In diesem Buch berichte ich über zwei verschiedene Krankheitsbilder. Eigentlich sind es keine Krankheiten, weil diese Anfang und Ende haben; – die hier geschilderten Erkrankungen sind Leiden! Sie haben einen Anfang, aber entweder kein oder ein schreckliches Ende, wie etwa ein Beinverlust oder eine Krebserkrankung.
Der Sinn meiner niedergeschriebenen Gedanken besteht im ersten Teil darin, den Umstand, auf der anderen Seite zu stehen, zu nutzen, um Behandlungsfehler zu erkennen, zu beschreiben und sich somit zum „Anwalt der Patienten“ zu machen ∗13. Deutsche Gerichte haben jährlich rund zehntausend Fälle in Sachen Arzthaftung zu verhandeln 17.
Es kommt mir nicht darauf an, die Behandlungsfehler zu personifizieren, denn eine Vielzahl derer liegt auch im System begründet 23. Fehler, Irrtümer und Mängel kommen immer und überall vor. Von einem Nichtmediziner werden die meisten aber gar nicht wahrgenommen, weil sie nicht in jedem Fall einen spürbaren Schaden hinterlassen.
Im zweiten Teil versuche ich, Gedanken und Gefühle eines Arztes zum Ausdruck zu bringen, der sonst vor oder neben dem Bett stand, nun aber mit einer Krebserkrankung in selbigem liegt und nach einiger Zeit getrost von sich behaupten darf, über die Geißel der Menschheit so ziemlich alles zu wissen. Es werden Situationen geschildert, wie sie jedem täglich begegnen können.
Die Darstellung meiner Beobachtungen ist einfach und erfordert beim Lesen keine medizinische Vorbildung, da ich nicht für Ärzte, sondern vorwiegend für Nichtmediziner berichten will.
Besonders im zweiten Teil wird Dr. Rosenbaum, E. „Der Doktor“ oft zitiert, weil er in ähnlicher Weise über seine Kehlkopfkrebserkrankung berichtet hatte, und sein Buch 1992 von Annette Charpen aus dem Amerikanischen übersetzt wurde.
Die Namen der medizinischen Einrichtungen und Personen bleiben ungenannt.
I. Wenn der Behandelnde zum Behandelten wird
Der „kranke Arzt“ ist ein schwieriges und in der Literatur kaum bearbeitetes Thema. Wenige Autoren, davon meistens Ärzte, haben darüber berichtet, was es heißt, Patient zu sein 10.
Ärzte sind von einer Aura unverletzlicher Stärke umgeben. Man erwartet, dass sie eine unerschütterliche Gesundheit besitzen 3. Wir Ärzte aber sind ebenso verwundbar wie alle anderen Menschen auch. Unser Doktortitel macht uns keineswegs immun gegen irgendeine Krankheit von Körper und Seele 13. Die Ärztekrankheit der Gegenwart ist das Burnout-Syndrom, eine schwere berufsbezogene Erschöpfung 3.
Die betreffende Ärztin oder der betreffende Arzt müssen eigenverantwortlich für sich sorgen, denn schon im neuen Testament heißt es: „Arzt, hilf Dir selbst!“ (Luc. 4, 23) 3
„Aber mit dem Wissen wächst der Zweifel“ (Goethe), denn wer Einsicht in diese Dinge hat, erkennt, dass die Objektivität einer Selbstdiagnose und die eines selbst erstellten Therapieplanes sehr zweifelhaft 3sein kann.
Diese Objektivität und kompetente Autorität, die gegenüber Fremden erforderlich sind, können schon bei Angehörigen und Freunden schwer durchsetzbar sein. Deshalb lehnen auch viele Ärzte die Behandlung dieses Personenkreises ab 3.
Umso schwerer ist es für den Arzt, sich selbst als Patient anzunehmen. Da die Fachkenntnisse des kranken Arztes es ihm erlauben, die bedrohlichen Folgen einer Krankheit deutlich vorauszusehen, ist es sinnvoll, sich vertrauensvoll der festen Führung eines kompetenten Kollegen anzuvertrauen. Doch auch bei der Konsultation desselben können sich Probleme 3ergeben.
Thomas Ripke 11/12(1943-2001), der als Arzt für Allgemeinmedizin sein eigenes Kranksein im Internet bis kurz vor seinem Tod dokumentiert hat, berichtet darüber 3: Häufig, so Ripke, wählt der erkrankte Arzt einen befreundeten Kollegen, oder einen, den er aus der fachlichen Zusammenarbeit als kompetent kennt. Diesem Arzt erzählt er seine Geschichte, und vermutlich tut er dies dissimulierend, verharmlosend und bagatellisierend, als ob er über einen gemeinsamen Patienten reden würde. Der behandelnde Arzt steht jetzt unter großer Gefahr, seinerseits mit Bagatellisierung und diagnostisch-therapeutischer Vernachlässigung zu reagieren 3/11/12.
Es kann jedoch auch umgekehrt sein: Der privilegierte Patient, der kranke Kollege, wird überdiagnostiziert (Darmspiegelung bei Darmgrippe) und übertherapiert. Er leidet dann vielleicht bald mehr an den medizinischen Maßnahmen als an der ursprünglichen Krankheit 3, 11, 12.
Zu diesen Problemen fand am 24./25. Mai 2001 auf Initiative von Dr. Thomas Ripke ein erster bundesweiter Workshop in Heidelberg und ein zweiter vom 03. bis 05. Oktober 2003 in Gütersloh statt.
Im Jahr 2001 charakterisierte Dr. Mäulen 10den „kranken Arzt“ treffend. Er sagte, dass ein Arzt auf die eigene Krankheit schlecht vorbereitet ist, die Patientenrolle nur schwer annehmen kann, immer genau informiert werden und über Diagnose und Therapie mitentscheiden will. Das wiederum setzt den Behandelnden unter Druck, sodass dieser sich schnell brüskiert fühlt. Weiterhin meint Dr. Mäulen 10, dass der „kranke Arzt“ einen schnelleren Zugang zu Spezialisten bekommt, sein Leiden im eigenen Krankenhaus oder Wohnort ebenso zügig bekannt wird, und dass er sich Sorgen um seine Praxis, seinen Arbeitsplatz und seine finanzielle Situation macht. Die Einnahmen gehen zurück, es entstehen Stress und Druck nicht nur für ihn, sondern auch für die Angehörigen.
Viele arbeiten im Beruf weiter und entwickeln aus ihrer Krankheit neue Ansätze, beispielsweise Selbsthilfegruppen. Manche nutzen mitunter zusätzlich alternative Therapien, modifizieren ihren Arbeits- und Lebensstil und festigen ihre Beziehung zum Partner; oder es kommt gar zur Trennung, je nachdem, wie und ob er vom Partner und den Angehörigen unterstützt wird. Kriselt es vor der Krankheit in der Ehe, kommt es durch die neue Belastung zu weiterer Distanzierung. Fazit: Der „kranke Arzt“ zieht seine Lebensbilanz und geht die Veränderungen an 10.
In Alfred Grotjahns Buch „Ärzte als Patienten“ 5findet er vor allem die Gelassenheit bemerkenswert, mit welcher der ärztliche Patient dem Tod entgegensieht – eine Eigentümlichkeit des Arztes, die sich auch in anderen Fällen nachweisen lässt 3. Dieses Buch schrieb Grotjahn 51929, und noch achtzig Jahre später wird seine Meinung nebst anderen durch Thomas Ripke (Dokumentation seiner Krankheit im Internet bis dessen Tod) bestätigt 11/12.
II. Tagebuch eines Arztpatienten
Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.
Diese Erfahrung musste ich nach fünfundfünfzig Jahren relativ guten Befindens machen. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich mich einmal mit so vielen gesundheitlichen Problemen würde auseinandersetzen müssen. Somit kann ich folgende Worte des Philosophen Voltaire bestätigen: „In der ersten Hälfte unseres Lebens opfern wir unsere Gesundheit, um Geld zu verdienen. In der zweiten Hälfte unseres Lebens opfern wir das Geld, um unsere Gesundheit wiederzuerlangen.“
Meine Krankheiten hatten zur Folge, dass ich häufig Patient in verschiedenen Einrichtungen wurde. Ein Krankenhausaufenthalt kann für jeden plötzlich notwendig werden. Somit kann auch bei jedem irgendwann einmal eine falsche Behandlung erfolgen, denn es ist erwiesen, dass Schadensfälle ständig zunehmen 17.
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