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Um 13:50 Uhr warfen die Lindenbäume schon die ersten Schatten auf den ausgetretenen Vorplatz aus Sand und Steinen. Das Befahren und Betreten drängte das Gras zurück und übrig blieb ein vertrocknetes und staubiges Niemandsland zwischen ausgeblühten Fliederbüschen und rissigem Straßenasphalt. Sie waren nicht die ersten Interessenten. Vor der Treppe der kleinen BHG wartete schon eine Traube von zehn bis fünfzehn Menschen, die nicht miteinander sprachen, in unterschiedliche Richtungen starrten und sich abwechselnd immer wieder mithilfe ihrer Armbanduhren über die aktuelle Uhrzeit informierten. Jürgen Krugmann und Axel Weber vergrößerten die Schlange um zwei weitere Personen. Sie ließen sich von der verriegelten Eingangstür aufhalten wie der strömende Fluss von einer Schleuse. Krugmann zwinkerte: »Wir bekommen noch einen Korb.« Dann verstummte auch er, ließ sich von der drückenden Stimmung voller Hoffnungen und Vorahnungen anstecken und starrte wie Axel Weber geduldig auf das Pappschild hinter dem gläsernen Türspalt, dass sich pünktlich um 14:00 Uhr bewegte, ein Schlüsselklappern im Türschloss nach sich zog und die Menschenmenge vor der BHG in einen langsam fließenden und seufzenden Strom verwandelte.
Hinter dem Eingang, der nach Holz und Linoleum roch, standen etwa zwanzig Handkörbe aus Drahtgeflecht. Über dem Tisch war ein Schild an die Wand angebracht: Rundgang nur mit Korb. »Nimm dir auch einen Korb, Axel.« riet ihm Krugmann. »Dann kommen weniger andere Leute in den Laden. Und wenn du keinen Korb in den Händen hältst, macht die Leiterin wieder ein Riesentheater. Die kann ein ganz schöner Besen sein. Wenn du es bei ihr verspielt hast, dann bekommst du nicht mal einen rostigen Nagel zu kaufen. Dafür sorgt sie schon.« Axel nickte »Ordnung muss sein« und zog an dem Bügel eines Korbes, drückte mit der anderen Hand die restlichen Körbe zurück und begann seinen Einkauf, indem er durch die Gänge mit überwiegend leeren Regalen schlenderte. Mausefallen. Friedhofsvasen. Tüten mit Sämereien. Hier gab es einen Überfluss an Dingen, die man nicht benötigte.
»Sagen Sie bitte, was für Waren haben Sie denn den ganzen Vormittag angenommen, wenn das Geschäft immer noch genauso ausgefegt ist, wie gestern Abend?« Die erboste Stimme eines Kunden, der seine Enttäuschung immer noch versuchte freundlich zu verpacken schallte durch das kleine Geschäft und sprach genau das aus, was alle anderen Besucher der BHG dachten. Sie liefen durch die hohlen Gänge und suchten nach den besondern Waren wie die schnüffelnden Polizeihunde nach einer heißen Spur.
Eine scharfe Frauenstimme heulte wie eine Kreissäge zurück: »Das geht Sie überhaupt nichts an, mein Herr. Wenn Sie bei uns nicht einkaufen wollen, dann brauchen Sie diesen Laden ja nicht zu betreten.«
»Ich würde ja gerne ein paar Holzbretter kaufen.« entgegnete die energische Männerstimme. Die Verkäuferin war beleidigt und ließ sich entnervt zu einer Antwort hinreißen: »Das tut mir leid, junger Mann. Diesen Artikel führen wir momentan nicht in unserem Sortiment. Sie können aber jederzeit immer wieder nachfragen.«
Krugmann tauchte mit leerem Korb auf: »Das kannst du heute vergessen.« Er winkte in die Richtung, aus der das Gespräch gekommen war: »Die Alte hat heute wieder schlechte Laune. Da ist es besser, gar nicht erst in ihre Schussbahn zu geraten.«
»Wir haben es doch noch gar nicht probiert.«
»Ein Hoch auf deinen Optimismus, Axel, aber spare dir den Ärger.«
»Vielleicht freut sie sich ja über eine nette Anfrage.« Jürgen winkte ab. »Du kannst ja machen, was du willst. Ich warte draußen auf Dich.« Axel sah Jürgen Krugmann verwundert hinterher. Was hatte das zu bedeuten? Er war es doch, der ihm Mut machte. Und jetzt gab er sich hier so kampflos geschlagen? Ein wenig komisch kam ihm das schnelle Einlenken schon vor. Trotzdem entschied er sich, nicht unverrichteter Dinge verschwinden. Es musste vorwärts gehen mit dem Garten, sonst wäre Gerda enttäuscht. Und Gerdas Enttäuschung rief sofort wieder ihr Heimweh auf die Tagesordnung. Er atmete tief durch, wie er das neulich auch vor dem Büro des Kombinatsleiters Liedke getan hatte, und ging durch die Gänge, bis er die Kasse sah. Dort lehnte eine ältere Verkäuferin auf dem Ladentisch und langweilte sich. ›Diese Frau ist es, die zwischen mir und meinem Gartenwerkzeug steht.‹ »Entschuldigen Sie bitte.« Er legte alle Freundlichkeit in diese Worte und gab sich Mühe, trotzdem natürlich und bescheiden zu wirken. »Ich bin hier neu hergezogen und habe für meine Familie einen Garten gepachtet und jetzt wollte ich einmal anfragen, ob man bei Ihnen einen Spaten und eine Schippe anmelden kann.« Die Frau in der rosafarbenen Kittelschürze verarbeitete die Worte langsam und ohne Regung. Sie schien zu überlegen. »Sagen Sie, sind sie nicht in die Schmiedeberger Str. 13 c eingezogen?« Das brachte ihn aus dem Konzept und alle seine zurechtgelegten Worte waren auf einmal verschwunden. »Ja, wir wohnen ganz oben in der fünften Etage.« Die Frau lächelte: »Ich weiß, neben Schäfer. Wir wohnen in der zweiten Etage rechts.« Er ging in Gedanken den Hausgang bis in dien zweite Etage rechts hinauf: »Frau Müller?«
»Ja, mein Mann ist der Hausvertrauensmann und hat Sie überall vorgestellt, außer bei seiner eigenen Frau.« Er nickte: »Das haben wir ja jetzt nachgeholt.«
»Ich habe Sie schon ein paar Mal mit dem Moped kommen sehen. Und ihre Kinder grüßen immer so nett im Treppenhaus, dass das immer eine rechte Freude ist, ihnen zu begegnen.«
»Das freut mich, dass sie zu Ihnen nett sind und wir sagen ihnen immer, lieber einmal zu viel grüßen als einmal zu wenig.«
»Ihr Sohn hat mich neulich dreimal an einem Tag gegrüßt. Und Sie und Ihre Frau haben mir auch schon Guten Tag gesagt, aber wenn man neu ist, dann stürzt alles auf einen ein.«
»Beim nächsten Mal weiß ich ganz bestimmt, wer Sie sind, versprochen.« Frau Müller lehnte sich zu ihm, damit sie nicht so laut sprechen musste: »Was brauchen Sie denn für Ihren Garten?«
»Er flüsterte zurück: »Wenn wir dürfen, dann hätten wir gern zwei Spaten, eine Schippe, eine Harke, eine Hacke und einen Sack Zement.« Sie nickte. »Kommen Sie heute Abend kurz nach sechs mit einem Anhänger.«
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Um fünf Minuten vor sechs fuhr Axel mit seinem Trabant und dem geliehenen Anhänger von Jürgen Krugmann auf den wilden Parkplatz vor der BHG. Die Schatten waren länger geworden. Er wartete. Im Radio wurden schon die Nachrichten verlesen. Kurz darauf erschien Frau Müller vor der Eingangstür und gab ihm ein Zeichen, dass er an den Hintereingang kommen sollte. Sie kassierte 13,50 Mark und deutete auf einen 50-Kilo-Sack mit frisch abgefülltem Zement, der neben der Laderampe lag. An der Wand lehnten ein Spaten und eine Hacke. Ein kleines Häufchen glückliche Fügung. »Den Rest habe ich aufgeschrieben. Vielleicht bekommen wir ja nächste Woche wieder was. Aber versprechen kann ich nichts.«
»Vielen Dank, Frau Müller. Wie kann ich das nur wieder gut machen?«
»Wo haben Sie ihren Garten?«
»Die Anlage heißt Karl Liebknecht und liegt am Schleifbach.«
»Dann könnten Sie mich nach Hause fahren. Das liegt doch so gut wie auf dem Weg.« Er lud den Zement und das Werkzeug auf den Hänger. Sie holte ihre Jacke aus dem Aufenthaltsraum. »Schönen Feierabend rief sie in den Verkaufsraum.«
»Schönen Feierabend.« klang es wie ein Echo zurück.
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Jürgen Krugmann saß vor seiner Gartenlaube in einem Campingstuhl und trank eine Flasche Bier. »Ach Axel, da bist du ja.«
»Hilfst du mit anfassen.«
»Na klar doch.« Sie trugen den Sack in seinen Schuppen. »Möchtest du auch einen Schluck Bier?«
»Nein danke, ich bin doch mit dem Auto.«
»Vielleicht das nächste Mal. Als Dankeschön für deine Mithilfe.«
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