Frankreich ist keine schwache Volkswirtschaft. Es hat viele gute, ausreichend große Unternehmen, seine Klein- und Mittelbetriebe könnten noch besser – den österreichischen oder deutschen vergleichbarer – sein, aber dafür hat es eine große, nicht konjunkturabhängige Luxusindustrie, und seine Banken sind sehr viel stärker als deutsche Geldinstitute. Frankreich hat gute Patente, sehr gute Schulen und sehr gute Universitäten.
Nur für Deutsche sind Renault-Motoren, trotz zweier Weltmeistertitel für Red Bull in der Formel 1, ganz unvergleichlich schlechtere Motoren als jene von Mercedes oder BMW. Das reale BIP pro Kopf als übliche Kennzahl wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit war es im Jahr 2005 jedenfalls nicht – mit seinen 36.505 US-Dollar war es nur um 3,1 Prozent geringer als das deutsche.
Wie fast überall in Europa ist dieses BIP bis 2009 kontinuierlich gewachsen und mit der Wirtschaftskrise ist es in Frankreich beträchtlich, von 37.755 auf 36.324 US-Dollar, in Deutschland wegen seiner Exportabhängigkeit sogar noch stärker, von 40.989 auf 38.784 US-Dollar, eingebrochen. Danach erholten sich die beiden Volkswirtschaften bis 2011 deutlich – in Frankreich auf 37.440 US-Dollar pro Kopf, in Deutschland dank massiver Investitionen im Sinne Keynes sogar auf 42.692 US-Dollar. Danach bremste der Sparpakt beider wirtschaftliche Erholung deutlich ein, aber Deutschland steigerte sein BIP/Kopf dennoch in den folgenden sechs Jahren bis 2017 (dem letzten Jahr, für das bei Redaktionsschluss exakte Zahlen vorliegen) auf 45.229 US-Dollar. Frankreichs BIP hingegen legt nur mehr auf 38.605 US-Dollar zu.
Aus einem Abstand von nur rund 1200 US-Dollar zugunsten Deutschlands im Jahr 2005 ist einer von rund 6600 US-Dollar im Jahr 2017 geworden (siehe Grafik).
Quelle: The World Bank
Die Entwicklung des deutschen realen BIP pro Kopf im Verhältnis zum französischen: Bei beiden bremst der 2012 beschlossene Sparpakt die Erholung massiv. 2017 ist der Abstand dank Deutschlands Lohnpolitik mehr als fünf Mal so groß wie er 2005 gewesen ist.
Der so dramatisch vergrößerte Abstand hat sicherlich mehrere Gründe, aber zweifelsfrei einen Hauptgrund, der in deutschen und österreichischen Medien so gut wie keine Erwähnung findet: Während Frankreich seine Löhne jedes Jahr um den Produktivitätszuwachs plus Inflation erhöhte und so, wie in der EU vereinbart, eine Inflationsrate von ca. 1,9 Prozent einhielt, tat Deutschland das seit Gerhard Schröder nicht mehr. Daher die Reallohnverluste der deutschen Arbeitnehmer. Daher freilich der gewaltige Konkurrenzvorteil der mit relativ immer weniger Lohnkosten belasteten deutschen Produkte. In acht Jahren hat er sich zu einem Lohnstückkosten-Vorsprung deutscher Waren gegenüber französischen Waren von rund zwanzig Prozent addiert.
Entwicklung der Lohnstückkosten in Deutschland und Frankreich
Im Vergleich zur „Goldenen Lohnregel“, wie sie seit Einführung des Euro im Jahr 1999 gilt. Die Goldene Lohnregel drückt aus, dass die Lohnstückkosten in den einzelnen Euroländern um jährlich 1,9 Prozent steigen müssen – das ist die Zielinflation der Europäischen Zentralbank.
Quelle: iAGS 2017/taz
Die Lohnstückkosten Deutschlands verringerten sich gegenüber jenen Frankreichs ständig – 2017 betrug der Abstand zulasten Frankreichs zwanzig Prozent.
Entsprechend massiv haben französische Unternehmen allenthalben, in der EU, in Russland, den USA, Südamerika oder China, Marktanteile an deutsche Unternehmen verloren. Mit Deutschland selbst wuchs Frankreichs Handelsbilanzdefizit allein zwischen 1998 und 2007 um den Faktor 30 von 1.317.100.000 US-Dollar (1998) auf 40.461.100.000 US-Dollar (2008). Deutschlands Exporte nach Frankreich selbst sind 2017 um 41,04 Milliarden höher als seine Importe aus Frankreich.
Dem entspricht die schlechte Auslastung französischer und die perfekte Auslastung deutscher Unternehmen. Dem entsprechen 3,75 Prozent Arbeitslosigkeit in Deutschland und 9,4 Prozent Arbeitslosigkeit in Frankreich, obwohl dort viele Menschen die Arbeitssuche längst aufgegeben haben. Dem entspricht ein Anteil jugendlicher Arbeitsloser (zwischen 15 und 24 Jahren) von 6,76 Prozent in Deutschland gegenüber 22 Prozent in Frankreich.
Dem entspricht die Stimmung in Frankreich.
Emmanuel Macron hat versucht, bei Angela Merkel gegen Deutschlands durch Lohndumping bedingten Handelsbilanzüberschuss zu argumentieren – erfolglos. Er hat versucht, Deutschland zu einem Milliarden-Investitionsprogramm zu bewegen, das Deutschland selbst, der gesamten EU und natürlich auch dem benachbarten Frankreich durch Aufträge zugutegekommen wäre und gleichzeitig den Lohnstückkosten-Abstand verringert hätte, weil Deutschlands Löhne stärker gestiegen wären. Vergebens. Denn Deutschland produziert lieber Überschüsse oder wenigstens schwarze Nullen, als massiv zu investieren. Zuletzt hat Macron versucht, der EU selbst ein Milliarden-Investitionsprogramm schmackhaft zu machen, das ein eigener EU-Finanzminister (er wird dabei wohl an einen Franzosen gedacht haben) bewilligen könnte und einmal mehr auch Frankreich zugutegekommen wäre. Wieder wegen deutschen, aber auch heftigen österreichischen Einspruchs vergebens. (Kurz wollte das EU-Budget angesichts des Ausscheidens der Briten eher verringert wissen.) 1
Nur mithilfe massiver Mehrverschuldung Frankreichs könnte Macron die Aufträge bereitstellen, die Frankreichs Unternehmen fehlen, was ihm nicht nur der Sparpakt, sondern auch sein eigenes neoliberales Wirtschaftsverständnis verbietet: Auch Macron selbst glaubt, dass Sparen des Staates ein richtiges Rezept zur Überwindung einer wirtschaftlichen Schwächephase ist.
Die Möglichkeit, Deutschland die verlorenen Marktanteile wieder abzujagen, ist eine rein theoretische. Denn dazu müsste es Macron gelingen, Frankreichs Lohnstückkosten durch „Hartzige“ Bestimmungen am Arbeitsmarkt um 25 Prozent abzusenken, weil man Marktanteile nur zurückgewinnen kann, indem man die Preise seines Konkurrenten unterbietet. Frankreich müsste sein Lohnniveau also um mindestens 25 Prozent senken.
Das provozierte eine Revolution, an der gemessen die Revolte der „Gelbwesten“ ein harmloser Kinderjausen-Zwischenfall wäre. Gleichzeitig verminderte es Frankreichs Inlandskaufkraft, die die Konjunktur derzeit aufrechthält, in einem Ausmaß, das sie in kürzester Zeit zusammenbrechen ließe.
Ich sehe nicht, wie sich Macron ohne Hilfe Deutschlands – durch massive deutsche Investitionen, die angesichts des dort herrschenden Arbeitskräftemangels die deutschen Löhne deutlich steigerten, zugleich aber auch französischen Anbietern zugutekämen – aus dieser desolaten politischen Lage befreien soll. Zumal Le Pen sehr geschickt agiert: Sie hat die „Gelbwesten“ ihrer „unverbrüchlichen Unterstützung“ versichert, sich aber, anders als die Führer der linken Opposition, nicht an ihren Demonstrationen beteiligt, so dass sie nicht mit brennenden Autos und eingeschlagenen Scheiben identifiziert wird. Wie Heinz-Christian Strache, der sich nie mit den braunen Ausrutschern seiner Funktionäre identifiziert, wirkt sie auf diese Weise „staatsmännisch“ und wurde auch schon von Macron ins Elysée geladen.
Ich sehe sie nach den nächsten Wahlen dort residieren.
Im Fokus des Interesses an der EU stand bis zu den französischen Feuerzeichen zweifellos Italien. Voran die Daten seines Niederganges:
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