Mit den frühen Upaniṣaden treten wir in eine neue Epoche des indischen Denkens ein. Im achten und siebenten Jh. v.u.Z. wurden verschiedene neue Philosophien definiert. Diese fanden ihre ersten Manifestationen in den frühen Upaniṣaden namens Aitareya, Kauṣītakī, Chāndogya, Kena, Taittirīya, Īśa, Kaṭha und Bṛhadāraṇyaka . Als nächste folgten wahrscheinlich zwischen dem siebenten und fünften Jh. v.u.Z. Praśna, Muṇḍaka, Māṇḍūkya, Śvetāśvatara, Maitrī, Subāla, Jābāla, Paiṅgala, Kaivalya und Vajrasūcikā . Diese Gruppe wird gerne als die ‚ Älteren Upaniṣaden ‘ bezeichnet. Neuerdings schrecken die Sprachwissenschaftler allerdings vor dieser Bezeichnung zurück: genaue Textanalysen belegen, dass auch die ältesten Texte ganze Einschübe jüngeren Materials enthalten. Es gibt eine ganze Menge weiterer Upaniṣaden , da sich der Name nicht nur auf eine literarische Klassifikation, sondern auch auf eine Art des Denkens bezieht. Manche Upaniṣaden wurden erst vor wenigen Jahrhunderten verfasst. Diese, die sogenannten ‘ kleinen Upaniṣaden ’, kann man grob in drei Gruppen einteilen: Śaiva, Vaiṣṇava und Śākta. Solche Konzepte existierten in der Zeit der frühen Upaniṣaden nicht; wir können den Beginn der kleinen Upaniṣaden grob auf das erste Jahrhundert v.u.Z. datieren, worauf sie bis ins 15. Jahrhundert weitergeführt wurden (Sharma 1972).
Nach außen hin waren die Veden noch immer das Rückgrat der religiösen Aktivität, aber auf einer subtileren Ebene brachten die späteren Kommentare ein blühendes Wachstum innovativer Interpretationen mit sich. Es gab so viele Veränderungen, dass ich mich auf ein paar grundlegende beschränken werde. Etwa vom Jahre 1000 v.u.Z. an begannen die Opferpriester Schöpfungsmythen zu sammeln und auszuarbeiten. Du hast schon einige davon gehört, und es gibt noch weitere im ṚV , aber das Thema war zu jener Zeit nur von geringer Bedeutung. Nun erlangte es eine größere Bedeutung, da immer mehr Denker über die Natur der Welt zu spekulieren begannen. Im Wachstum dieser Spekulationen können wir eine Zunahme verschiedener philosophischer Schulen beobachten. Es hatte schon immer eine große Vielfalt in der religiösen Praxis gegeben, aber nun begann die Vielfalt das gesamte Weltbild zu erschüttern. Mit ihr stoßen wir auf eine Zunahme des Zweifels. Allmählich begannen die Götter an Bedeutung zu verlieren. Die zu extremer Kompliziertheit entwickelten Rituale wurden für so bedeutend gehalten, dass die Götter bei richtig durchgeführten Opferungen verpflichtet waren, ihren Segen zu gewähren.
Bils 12
Leben nach Leben
Dies ist ein fast automatischer Prozess: Richtige Opferung wird mit vorhersagbaren Ergebnissen gleichgesetzt. Mit dieser Art von Glauben kann man von einem Gott erwarten, dass er sich so verhält, wie der Priester es wünscht. Daher begann viel von der ursprünglichen Lebendigkeit der Gottheiten zu verschwinden, während die Macht und Autorität der Ritualspezialisten immer mehr zunahm. Dies führte zu Spannungen zwischen den Brahmanen und der Krieger-Aristokratie, die aber gelegentlich durch Hochzeiten zwischen den Klassen ausgeglichen werden konnte. Wir können auch eine Zunahme von ‘All-Selbst’-Konzepten beobachten, wie Puruṣa, Ātman, Prajāpati und schließlich Brahman. Hier verließ das indische Denken den Polytheismus und begann, den Pantheismus zu erkunden. Mit den Upaniṣaden wurde Brahman zur wichtigsten spirituellen Vorstellung. Dies implizierte eine neue Einschätzung der Rolle des Menschen in der Realität.
Frühere Perioden hatten darauf bestanden, dass die kosmische Ordnung (Ṛta) durch regelmäßige und präzise Opferungen aufrecht erhalten wird. Doch neuerdings war die hauptsächliche Verbindung des Menschen mit dem Göttlichen die frisch entdeckte All-Seele. Da jedes Wesen mit einem Selbst (Ātman) ausgestattet ist, kann es sich an seine Verbindung mit dem All-Selbst, Brahman, erinnern und schließlich dahin zurückkehren. Dieses Erinnern und Erkennen wurde zur wichtigsten spirituellen Disziplin. Wir befinden uns an den Wurzeln der Suche nach Befreiung. Brahman zu erkennen und damit eins zu werden, bedeutet alle Form, Namen, Rang und persönliche Geschichte zu verlieren. Wer ins All-Selbst eingehen will, muss das persönliche Selbst loslassen. Die frühen vedischen Priester versuchten die kosmische Ordnung aufrecht zu erhalten, waren aber nicht an einer Auflösung im All-Selbst interessiert. Die Verfasser der Upaniṣaden begannen Opferungen als etwas Nebensächliches anzusehen; der Gegenstand ihrer Suche war die Befreiung von der begrenzten menschlichen Existenz durch das Einswerden mit dem Bewusstsein, aus dem Alles entsteht. Und genau hier kommen wir noch einmal zum Thema Transzendenz zurück.
Der Wandel von vedischer zu upaniṣadischer Religion verschiebt den Schwerpunkt von den Riten für die Kriegerklasse zu denen der Brahmanen, Asketen und Weltverweigerer. Wo es vorher nur möglich war, die absolute Transzendenz durch eine Eroberungsfahrt in und durch die Sonne zu erreichen, wurde es jetzt möglich, beim Sterben nach Innen zu gehen. Das Brahman, so lesen wir in den Upaniṣaden , ist nicht nur im jenseitigen Himmel, sondern vor allem in uns selbst zu finden. Wir haben also ein allumfassendes Universalbewusstsein, und gleichzeitig in unserem Inneren einen Ableger davon. Dabei wurde eine neue Idee eingeführt: Im Inneren des Körpers ist das Herz, und dieses ist ein Raum der absoluten Leere. In dieser Leere erscheint das wirkliche Selbst, welches daumengroß oder noch kleiner ist. An diesem Punkt gab es eine Menge unterschiedlicher Ideen, so z. B. bei den Anhängern des immer populärer werdenden Viṣṇu, die davon ausgingen, dass Brahman eben Viṣnu und daher dieses Selbst wären. In anderen Texten begegnen wir diesem Selbst als dem Puruṣa oder als Śiva. Oft wurde das Selbst auch als Emanation der Sonne betrachtet, als eine kleine Sonne, die im Inneren leuchtet. Wie dem auch sei, der Sterbende hatte die Möglichkeit, die Eroberungsfahrt nach innen anzutreten, und dabei absolute Befreiung zu gewinnen. In diesem Prozess, der durchaus meditative Züge in sich trägt, wurde weiterhin die Eroberungsterminologie des vedischen Yoga verwendet. Statt den Zügeln/Lichtstrahlen der Sonne zu folgen, folgte man jetzt den Lichtstrahlen, die vom Herz zur Schädeldecke führten, durchbohrte diese und löste sich im Allbewusstsein auf. Und damit haben wir einen Vorgeschmack auf all die späteren Reisen zur Transzendenz, wie sie z. B. bei der Erweckung der Kuṇḍalinī vorkommen. Die Lichtbahn zur Sonne wurde mit der Lichtbahn durch die Schädeldecke gleichgestellt. Man könnte dieses willentliche Sterben, oder auch seine meditative Vorwegnahme, natürlich als Yoga bezeichnen.
Das wäre allerdings nicht passend, denn in der späten Upaniṣadenzeit taucht der Yogī zwar auf, ist aber nicht im Geringsten an meditativen, spirituellen oder introvertierten Praktiken interessiert. Vielmehr ist ein Yogī entweder ein gefährlicher Zauberer, dessen Hauptinteresse darin liegt, magische Kräfte zu gewinnen, und dessen gefürchtetster Zauber darin besteht, sich mit anderen Personen oder Tieren ‚zusammenzuschirren‘ oder ‚anzujochen‘, in deren Körper einzudringen und dann deren Leben zu genießen. Dabei geht es oft um reichlich primitive Machtvorstellungen und völlig materielle Ziele: wie White (2011) deutlich macht, wird von keinem der frühen Yogīs erwähnt, er hätte sich jemals mit Āsana, Atemkontrolle, Introversion, Ethik oder irgend einer meditativen Technik beschäftigt. Doch das Zusammenschirren mit anderen konnte auch zur Initiation verwendet werden, und diese Idee lebte in verschiedenen tantrischen Richtungen auf: der Guru ‚durchbohrt‘ den Schüler durch die Augen oder eine andere Öffnung und fließt in goldenem Glanz in diesen hinein, um dessen Bewusstsein nach oben, zur Transzendenz zu tragen. Es werde auch Situationen erwähnt, in denen große Yogīs zeitweilig in den Köper von Personen eindrangen, um diese mit ihrem Wissen, ihrer Kraft und ihren magischen Fähigkeiten auf dem Schlachtfeld oder in Notsituationen zu unterstützen.
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