Der Schwarze machte kommentarlos einen Rückzieher, während der andere, an der Hand des Türken hängend, um sich schlug und tobte: „Lass los, lass mich los! Ich muss den totmachen!“
Jetzt wurde ich sauer! „Was soll der Quatsch? Willst du den Rest deines Lebens im Knast verbringen? Totmachen? Warum denn?“
„Der hat mich angegriffen. Der kam und ging mir sofort an den Hals!“
„Sollte vielleicht eine freundschaftliche Geste sein?“, meinte ich erstaunt und reichte ihm seine Brille.
„Nein, nein, der hat mich angegriffen! Das, das kann ich doch nicht zulassen. Da, da muss ich mich doch wehren!“, stotterte er schon etwas ruhiger, ohne uns anzusehen.
„Ja sicher, aber doch nicht so: Muss ich totmachen!“, äffte ich ihm nach.
Er riss sich aus der gelockerten Hand des Türken frei und ging, ohne uns weiter zu beachten, in die Stadtverwaltung.
Der nette Türke erklärte uns, dass er die beiden schon öfter gesehen hätte. Sie säßen immer in den Anlagen am Krankenhaus und würden dort trinken, sich später gegenseitig anpöbeln. Jetzt hätten sie sich zufällig hier alleine getroffen! Sonst wären sie immer mit mehreren zusammen.
So ungefähr hatte ich ihn verstanden. Seine Deutschkenntnisse waren leider nicht so gut. Ich bedankte mich für seine Hilfe, er winkte ab. Es schien für ihn selbstverständlich gewesen zu sein.
Als wir im Flur der Verwaltung noch etwas warten mussten, kam dieser junge Mann aus einem der Zimmer heraus und ich konnte ihm richtig ins Gesicht sehen. Er erinnerte mich an meinen Neffen, der auch so ein Hitzkopf war, wenn er angegriffen wurde.
Wir sprachen noch einmal kurz miteinander und auch er bedankte sich bei uns. Er war sichtlich froh, dass nicht mehr passiert war; seine Brille nicht zu Bruch ging, was für ihn ein erheblicher Verlust gewesen wäre.
Ich riet ihm noch, er solle in Zukunft die Fäuste in den Taschen lassen, wenn er wütend wird, und vor allem nie wieder sagen, „Muss ich totmachen!“, nicht einmal denken! Das könnte ganz böse ins Auge gehen und er säße nachher, für etwas, was er gar nicht getan oder gewollt hat, im Knast.
„Aber ich muss mich doch verteidigen“, meinte er uneinsichtig.
„Ja natürlich, aber nicht mit solchen Sprüchen. Daraus entstehen Missverständnisse!“ Ich sah ihm dabei wiederholt direkt ins Gesicht. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, er nahm sich von dem Gesagten etwas an. Danach zog er, scheinbar innerlich zufrieden, ab.
Tante Gertrud hob erneut ihren Stock und rief ihm hinterher: „Musste nicht mehr tun Junge, so rumkloppen. Dat is nicht schön sowat. Nee, nee, dat iss nicht schön!“
Ich musste immer wieder über die Tante lächeln. Irgendwie war das ganz niedlich, wie sie so mit dem Stock fuchtelte, wie sie sprach und beim „Nee, nee“ mit dem Kopf schüttelte. Und ich freute mich verhalten, dass ihr Herz, das alles ausgehalten hat und hoffentlich noch aushalten wird. Schließlich hatten wir noch den Rückweg vor uns.
Sie können mir glauben, am späten Nachmittag hatte ich immer noch dieses unerklärliche und sonderbare Gefühl im Körper, dieser Schreck und diese Panik: Was tun, und hoffentlich das Richtige!
Und sonderbarerweise waren es gleich vier verschiedene Nationalitäten die da zufällig und unfreiwillig aufeinandertrafen. Dazu kam, dass alle, wirklich alle, dieselbe Sprache sprachen – die Sprache über den Blickkontakt.
Allerdings wurde mir an diesem Tag etwas ganz besonders klar: Uns allen standen gleich mehrere Schutzengel zur Verfügung.
Und jetzt, so im Nachhinein, frage ich mich schmunzelnd immer wieder: „Ob diese Engel auch vier verschiedene Nationalitäten hatten?“
Eisige Kälte
weht mir von dir entgegen
ich schließe mein Fenster
Theater, Theater . . . wirklich nur Theater?
„Hallo Margarete, ich habe ein Problem. Bei unserer Märchenaufführung brauche ich dich als Ersatzperson. Könntest du einspringen?“
Eine leicht nervöse und mir gut bekannte Stimme drang aus dem Handy in mein Ohr. Verblüfft hörte ich ihr aufmerksam zu. Damit hatte ich nicht mehr gerechnet.
Die Termine zur Aufführung standen fest und die hierzu benötigten Proben waren auch schon gelaufen.
„Wie kommt’s. Was ist passiert?“
„Lena ist ausgefallen! Sie muss auf Geschäftsreise, dringend und nicht zu ändern!“
„Verstehe! Und wie soll ich so schnell den Text ohne Probe hinbekommen? Wie viel muss ich überhaupt lernen? Das schaffe ich nie, ich habe im Moment auch wenig Zeit“, meine jetzt auch nervöse Antwort.
Ich saß gerade selbst in einer Besprechung. Meine Gedanken kreisten um Verbesserungen des täglichen Arbeitsablaufes innerhalb der Unternehmung, bei der ich zurzeit beschäftigt war.
„Es sind höchstens drei kurze Sätze. Die hast du schnell drauf!“, hörte ich am anderen Ende, die jetzt leicht bestimmte Mutmachung.
„Wann soll ich denn einspringen?“
„Beim zweiten und vierten Auftritt. Also am elften und sechzehnten, kommenden Mittwoch und den darauffolgenden Montag. Hast du an den beiden Tagen Zeit?“
Jetzt konnte ich etwas Sorge aus der Frage heraushören, welche mich zu einem intuitiven „Ja“ verleiten ließ.
„Gut!“, drang es erleichtert in mein Ohr. „Morgen um 11:30 Uhr ist die Generalprobe. Vielleicht kannst du dir das Stück schon mal ansehen. Ich bringe dir eine Kopie des Rollenbuches mit. Ist wirklich nichts dabei. Das klappt schon!“
Das war‘s. Jetzt hatte ich eine Rolle ohne überhaupt etwas über das aufzuführende Bühnenstück zu wissen! Am Sonntag hatte ich ohnehin vorgehabt mir die Premiere anzusehen. Na gut, warum nicht auch die letzte Probe?
Die Generalprobe verlief wie üblich. Kaum ein Darsteller war voll konzentriert bei der Sache. Es lief so einiges schief und ich dachte: Wie soll das morgen werden, bei so viel Chaos? Meine Rolle war wirklich ganz einfach. Ich würde das Rollenbuch mit zur Arbeit nehmen und mir in den Pausen die Einsätze genau einstudieren.
Die Premiere, am Sonntag, verlief wie gewohnt super. Das Theaterspiel kam beim Publikum lobend an. Auch hörte ich Sätze, die bei der Generalprobe völlig untergegangen waren. Die Besucher klatschten begeistert. Dann, während einer kurzen Unterbrechung, die Bühne musste umgebaut werden, hörte ich die Worte einer etwa Fünfjährigen, die gespannt auf ihrem Stuhl hin und her rutschte: „Oh, jetzt kommt die Werbung!“ Gelächter, ein herrliches Gelächter, auch in dieser kurzen Pause.
Der Rest des Spieles verlief genauso aufgelockert und gekonnt, wie es begann. Die kleinen und großen Zuschauer waren bis zum Schluss begeistert.
Als am Ende der Aufführung die Darsteller „zum Anfassen“ vor den Vorhang traten, waren es besonders die kleinen Mädchen, die schüchtern, fast ängstlich, der Prinzessin einmal die Hand reichen wollten. Oh wie stolz liefen sie zu ihren Eltern zurück, nachdem sie es tatsächlich geschafft hatten bis zu ihr durchzudringen!
Das war eine wahre Beglückung für mich, solches zu beobachten. Es erinnerte mich an meine eigene Kindheit. Wie oft hatte ich als kleines Mädchen geträumt, eine Prinzessin zu sein, besonders dann, wenn mir meine Tante „Schneewittchen“ vorgelesen hatte. Die Welt der Märchen berührt wohl jede Kinderseele, selbst als erwachsene wird sie wohl nie ganz frei davon.
Die nächste Aufführung sollte also mit mir besetzt werden. Kleid, Schuhe, Perücke, alles wurde ausgesucht, anprobiert und alles passte perfekt. Nur die Bilder zur Erinnerung waren bereits bei der Generalprobe ohne mich fotografiert worden. Ich fragte Bernd, unseren Fotografen und Pförtner des Kaisers, ob es möglich sei, ein paar Bilder extra für mich zu schießen, vielleicht während ich spiele und einige hinterher. Schließlich mochte ich auch welche für mein Album haben.
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