Nach dem Gewitter war das Leben aus seiner Zuflucht in der Tiefe an die Meeresoberfläche zurückgekehrt: unermessliche Massen mikroskopischer Stachelkästchen, winzige Geschöpfe, die sich mit filigranen Schalen schützten, bewehrt mit Stacheln und ausgestattet mit Leuchtorganen. Ihnen folgten Fackelwürmer und Borstenwürmer und Lanzenköpfe; Schlangenschlucker, Gaffer und Beilfische und andere Tiefseefische, die bei Nacht an die Oberfläche kamen. Außerdem gefräßige Klinker und 'kudas und Stachelfische und wer weiß was noch, das im Ozean der Lichter, Fackeln und Laternen, die die Dunkelheit mit hellen Farben zerrissen, nach Nahrung suchte. Grün- und Blautöne, gelb, rot, weiß: glühend, miteinander verschmelzend und ineinander strömend, während das Plankton wimmelte. Schulen bildeten und zerstreuten sich und sammelten sich erneut, während rings um die Argosie das Leben wogte.
Tagane betrachtete den Ozean, der sie umgab. Sie hatte immer schon den Eindruck gehabt, dass die Farben nach einem Gewitter am strahlendsten leuchteten. In der Ferne erblickte sie dunkle Gebilde, die durch das Grün schnellten, etwas Großes und Ungewohntes, das sie noch nicht gefangen hatten. Was vielleicht auch besser so war, dachte sie. Rund fünfzig schwarze Blimps erhoben sich sechzig Meter über die Wasseroberfläche, von marmorartigen Mustern überzogen, die organgefarben leuchteten und sie immer an glühende Magmaklumpen erinnerten, die gerade erkalteten.
Plötzlich setzte sich die Argosie ruckartig in Bewegung. Tagane spürte ihre Unruhe für einen Moment, bevor sie ihre starken Arme hoch über die Wasseroberfläche hob und alle vier Segel ausbreitete, um möglichst viel vom leichten Wind einzufangen. Mina sprang auf die Füße, Roberta und Conrad nach ihr. »Meinst du ...?«, fragte Slaven.
»Möglicherweise«, nickte Tagane. Sie spürte, dass sie alle von neuer Unruhe erfasst wurden. Und die Argosie auch. »Wurde auch Zeit.« Mit Lasten beladen, bewegte sich die Argosie recht schleppend und war wenig geneigt, ihren Kommandos Folge zu leisten und in die gewünschte Richtung zu segeln, den Fischen, Algen und Fackelwürmern hinterher, von denen sie lebten.
Die Argosie segelte dahin, von einem Verlangen getrieben. Langsam und träge, aber sie segelte und zog ein helles Kielwasser hinter sich her. Als ob er das wortlose Flehen der Argosie erhörte, blies der Wind etwas stärker. Das Schiff und seine Mannschaft ließen die Blimps hinter sich, segelten über den flammenden Ozean, gefolgt von einer Schule Klinker, die sicheren Abstand zu den Armen der Argosie hielten. Tagane lehnte sich gegen die Reling. Der Wind schlug ihr kalt ins Gesicht und zerwühlte ihr Haar. Sie warf einen Blick auf Slaven, Roberta, Mina und Conrad. Die Anspannung zwischen ihnen nahm erneut zu. Auch in Tagane. Erwartungen, Nervosität, Unruhe. Sie betrachtete noch einmal ihre Seeleute, die Kameraden, mit denen sie die Argosie teilte. Ihretwegen lebte sie nicht auf den Inseln, in der Sicherheit festen Bodens unter ihren Füßen. Ihretwegen war sie auf dem Meer unterwegs und den Wind, den Strömungen und den Launen der Argosie ausgeliefert. Vor einem Gewitter konnten sie sich in die Tiefe zurückziehen. Vor den Ungeheuern waren sie durch die Arme eines wohlwollenden Ungeheuers geschützt. Ihretwegen, erkannte Tagane, segele ich. Und mit ihnen fühlte sie sich lebendig.
Man muss nicht leben, aber man muss segeln. Ein uraltes Sprichwort, das noch von der Erde stammte. Tagane hatte es vor langer Zeit gehört. Aber auf der Argosie gab es diesen Unterschied nicht. Leben und Segeln waren ein und dasselbe. Tagane begriff, dass sie sich ein Leben ohne Segeln nicht mehr vorstellen konnte. Und in gewisser Weise - gegen jede Logik, denn sie alle wussten, das sie nur Passagiere waren, die von der Gnade eines unendlichen Ozeans eingelullt wurden, der sich in Wahrheit nicht um seine Kinder scherte - erfüllte es sie mit Freude und Frieden.
»Tagane, schau mal! Da drüben«, wurde sie von Conrads Ruf aufgeschreckt. Sie hob den Blick, sah in die Richtung, in die sein Finger zeigte, und sah eine ferne Schale und Arme und vier ausgebreitete Segel. Eine zweite Argosie.
Bevor sie etwas sagen konnte, spürte Tagane, dass die Kammern sich rasch mit Wasser füllten, schneller als üblich. »Rein mit euch!«, befahl sie, und sie alle verkrochen sich hastig in der Schale, in ihrer Luftblase, während die Argosie tauchte, getrieben von einem Instinkt, über den sie keine Kontrolle hatte.
*
»Er ist riesig«, flüsterte Mina, ihre Nase an die Sichtluke gedrückt. Tagane entging nicht das Zittern, das ihren zerbrechlich wirkenden Körper durchfuhr. Sie spürte es selbst. Sie alle spürten es - es war das Zittern der Argosie. Anspannung. Erwartung. Süßes Verlangen.
»Er ist nicht größer als unsere Argosie«, sagte Slaven.
Aber auch nicht viel kleiner, befand Tagane. Das Männchen war in etwa fünfzig Faden Tiefe zur Ruhe gekommen, die Arme angelegt, die Segel eingezogen. Seine Schale war ein dunkles, eiförmiges Gebilde inmitten der schimmernden Aquarelle der Farben. Er wartete darauf, dass ihre Argosie auf ihn zukam.
»Siehst du jemanden?«, fragte Conrad. Tagane schaute durch die Sichtluken, aus denen milchig grünes Licht drang, das das Männchen einhüllte. Und ja, sie sah einen Mann. Sie winkte ihm zu. Er winkte zurück. Und dann erschien ein zweiter Kopf neben ihm, der Kopf einer Frau.
»Wir haben Gäste!«, rief Tagane. Alle waren begeistert. Es wurde Zeit für ein wenig Veränderung. Sie drängten sich alle neben Tagane um die Lichtluke zusammen, um zu sehen, was auf sie zukam.
»Ich kann nichts sehen«, klagte Roberta. Die Argosie näherte sich dem Männchen, der zweiten Argosie.
»Sie kommen mir nicht bekannt vor«, sagte Slaven. Er winkte den drei Köpfen zu, die sie inzwischen aus dem Männchen beobachteten. »Es könnten Leute aus dem Norden sein. Die nördliche Strömung ist in diesen Monaten recht stark.«
Und dann, durch den brennenden Ozean, streckte die Argosie einen Arm aus und berührte das Männchen. Sie betastete seine Schale und strich über seine Arme. Sie umfuhr sein riesiges Auge und streichelte sein Schild. Tagane wusste, dass das Weibchen immer als erstes einen Arm ausstreckt. Das Weibchen lädt immer als erstes zum Tanz. So verlangen es die Tradition und die Sitten der Argosies.
Das Männchen musste nicht lang umgarnt werden. Taganes Herz machte einen Sprung, als es seine Arme ausbreitete und auf die Argosie zukam. Auch sie streckte ungeduldig ihre Arme aus. Das Männchen verharrte für einen Moment, dann kam es ganz nah. Sein Saugrohr verband sich mit dem der Argosie. Wer immer sich im Männchen aufhielt, das wusste Tagane, würde durch das Saugrohr in ihre Argosie hinüber steigen. Die Mannschaft des Männchens kommt immer zum Weibchen hinüber. Sie alle - Tagane, Slaven, Roberta, Mina und Conrad - starrten angespannt auf die fleischige Membran vor dem Eingang der Kammer.
Die Membran öffnete sich, und ein mittelalter blonder Mann in Begleitung zweier jüngerer Frauen betrat ihr Zuhause. Die Mannschaft der anderen Argosie bestand nur aus drei Leuten, was Tagane ein wenig beruhigte. Es wäre ihr alles andere als recht gewesen, wenn sieben oder acht Männer die Kammer betreten hätten, mit vielleicht einer oder zwei Frauen. Und Mannschaften konnten sich ihre Schiffe nicht aussuchen. Die Argosies trafen die Wahl.
Sie sind auch nervös, erkannte Tagane. Sie spürten das Drängen des Männchens, so wie Tagane das Drängen ihrer Argosie spürte. Und sie kennen uns nicht, wie auch wir sie nicht kennen. Tagane lächelte. Ein Lächeln brach immer das Eis. Die Frauen antworteten mit einem sichtlichen Flattern ihrer Herzen. Der Mann lächelte auch. »Ich bin Sven«, sagte er. Der Kapitän, der den Besuch abstattete, ist immer der oder die erste, die sich vorstellt. »Tilda und Marina.«
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