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Sie folgte dem Bach, den Sie an dem Tag entdeckte, nachdem die Megalosaurier Ihre Herde angegriffen hatten, und erreichte nach fünf Tagen das Meeresufer. Der Bach murmelte durch den Wald, floss mit anderen Bächen zusammen und weitete sich nach zwei Tagen zu einem trägen Fluss. Klares Wasser stillte ihren Durst - klares Wasser, das Sie durch ein seltsames, unbekanntes Land führte.
Vor Ihr erstreckte sich das Meer. Zum ersten Mal in Ihrem Leben sah Sie Plesiosaurier, deren ferne, kleine Köpfe sich auf langen, gräulichen Hälsen hoch über die Wellen erhoben, unter ihnen ihre Körper und die Flossen, die durchs Wasser schlugen. Gegen die Wolken zeichneten sich die Silhouetten großer Pterosaurier ab, die ihre Kreise zogen, von aufsteigender warmer Luft getragen, ihre langen Flügel bewegungslos. Mehrere kleine Pterosaurier - mit gefalteten Flügeln und langen Schwänzen, nackten roten Köpfen und mit nadelspitzen Zähnen gespickten Kiefern - labten sich an einem toten Fisch am Strand.
Sie schritt über den weichen Sand und hielt inne, um an einer großen, spiralförmigen, an den Strand gespülten Ammonitenschale zu schnüffeln. Der Geruch von Verwesung aus dem Inneren der Schale war neu für Sie. Neugierig stupste Sie die Schale mit Ihrer Nasenspitze an, aber nichts kroch daraus ins Freie. Als Sie wieder aufblickte, bemerkte Sie eine Spur von Fußabdrücken, die über den Strand führte, dann abknickte und unter den Palmfarnen und Araukarien verschwand. Sie sah genauer hin und entdeckte weitere Fußabdrücke, ganz winzige, die die flinken Füße eines kleinen Dinosauriers zurückgelassen hatten. Und große, kreisrunde Abdrücke, die Spuren eines Sauropoden, einem Herdentier wie Sie selbst, das Sie einmal gesehen hatte, mit Beinen dick wie Baumstämmen, die einen massigen Körper trugen, einem langen Hals und peitschenartigem Schwanz. Sie blickte zurück: Sie selbst hatte auch Fußabdrücke hinterlassen. Aber da war noch eine andere Reihe von Fußspuren. Ihre Nüstern blähten sich, als Sie den schwachen, verblassten Geruch einatmete, den Geruch erkannte und erstarrte. Ein Megalosaurier war hier vor einiger Zeit auf der Pirsch gewesen. Vielleicht hatte er hier nach Aas gesucht, bevor er in den dunklen Wald zurückgekehrt war. Oder vielleicht jagte er immer noch. Zähne... Auch hier lauerte Gefahr, erkannte Sie. Sie musste vorsichtig sein. Dennoch war Sie relativ sicher, solang Sie sich am Strand aufhielt. Es wäre für einen Fleischfresser schwierig, sich auf offenem Gelände an Sie heranzuschleichen und Sie anzuspringen.
Unversehens schallte ein tiefer, hohler Ruf über den Strand, und die Pterosaurier, die den Fisch verspeisten, hoben erschrocken ihre nackten Köpfe.
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Vesna drückt den grünen Knopf und blickt auf den beleuchteten Bildschirm ihres Handys. Keine neuen Nachrichten. Sie weiß, dass ihre Hoffnungen trügerisch sind. Slaven wird nicht zurückrufen. Er hat nicht den Mumm dafür. Es ist ihm sogar gleichgültig. Vesna schwört hoch und heilig, dass sie nie wieder eine Beziehung mit einem Kerl von der Art eingehen wird, die per Handy Schluss machen.
Sie lehnt sich auf der Bank zurück und lässt sich von der Brise vom Meer kühlen. Weiße Dinosaurier gleiten über den Himmel, verzückt von der Freiheit, die sie dort oben genießen. Auf einem Felsen in der Nähe streitet sich eine braune Jungmöwe mit einem ausgewachsenen Vogel um einen Bissen, ein Stück Brot. Der ausgewachsene Vogel gewinnt, und der Jungvogel streckt die Flügel aus, hebt ab und fliegt in geringer Höhe über den Wellen, um an anderer Stelle entlang der Küste sein Glück zu versuchen.
Vesna breitet ihre aufgeschlagene Mappe vor sich aus. Sie ist nicht recht bei der Sache, als sie durch die Zeichnungen versteinerter Fußabdrücke blättert. Sie sind mit einem präzise gezeichneten Quadratgitter überzogen. An der Grabungsstätte ist dasselbe Gitter mit straff gespannten Seilen markiert. Heute morgen hatte das Team reichlich damit zu tun, weitere dreißig Quadratmeter freizuräumen, Büsche auszureißen, Erde und Steine beiseite zu schaffen. Der neu freigelegte Abschnitt ist noch nicht aufgeteilt, deshalb hat Vesna die Zeichnungen noch nicht skaliert.
Die Gegenwart einer anderen Person reißt Vesna aus ihrer Träumerei. Šarić steht höflich neben der Bank und versucht sich nicht anmerken zu lassen, dass ihn der Inhalt ihrer Mappe interessiert.
»Neugier spiegelt Intelligenz wider, Professor«, neckt Vesna ihn und wendet den Blick wieder den Zeichnungen zu.
»Danke.« Der Professor wird rot.
Vesna lächelt und rückt ein Stück zur Seite, eine wortlose Einladung, die er erleichtert annimmt. Heute erschien ihm der Spaziergang anstrengender als sonst. Das Alter... »Darf ich?«
»Natürlich.« Vesna reicht ihm die Zeichnungen. Der Professor erkennt gleich, dass es sich um eine Serie von Zeichnungen handelt, die aufeinander folgen.
»Ist es das, worüber die Leute reden?«
Vesna nickt. Ganz Istria ist aus dem Häuschen wegen des neusten Fundes: hunderte versteinerte Fußabdrücke. Mindestens fünf Dinosaurier-Arten und zahllose Einzeltiere: Iguanodons, ein riesiger Sauropode neben zahlreichen kleineren Pflanzenfressern - einige davon wahrscheinlich Hypsilophodons - und ein Fleischfresser.
»Sie stammen aus der frühen Kreidezeit.« Vesna zeigt auf die Übersichtskarte. »Das hier ist ein Sauropode. Sehen Sie hier, er ist einfach vorbeimarschiert. Es war ein großes Exemplar - beachten Sie den Durchmesser der Fußabdrücke! Zwanzig Meter lang, vielleicht noch länger. Und das hier ist ein großer Raubsaurier, vermutlich ein Megalosaurier oder etwas Ähnliches. Wir können die genaue Spezies, der ein Carnosaurier angehört, noch nicht allein aufgrund der Fußabdrücke bestimmen... Und dies hier sind die Iguanodons...« Vesna verstummt, als sie die verwirrten Blicke des Professors bemerkt.
»Wissen Sie, ich arbeite in einem ganz anderen Fachgebiet. Englisch, Deutsch, Italienisch... Dinosaurier... Ich weiß nur, dass es sie gegeben hat.«
»Tut mir leid.« Vesna entschuldigt sich mit einem Lächeln. »Manchmal vergesse ich mich. Hier.« Sie zieht einige Rekonstruktionen hervor, die sie gezeichnet hat, als sie gerade keine Fußabdrücke sorgfältig ins Gitter kopieren musste. Professor Šarić nickt, beeindruckt von ihrem Talent, längst ausgestorbene Tiere in ihren detaillierten Bleistiftzeichnungen wieder zum Leben zu erwecken.
»Dies da sind also die Fußabdrücke von Iguanodons?«
»Ja, da sind wir uns ziemlich sicher. Aber wir wissen nicht, was diese hier bedeuten. Niemand hat je etwas Vergleichbares gefunden! Schauen Sie, wie die Erde zertrampelt wurde.« Vesna nimmt ihm die Zeichnung ab und zeigt aufgeregt auf die entsprechenden Stellen. Der Blick des Professors folgt ihrem Finger, während er das Papier überfliegt. »Dies hier war ein Tier. Es hat sich dem zweiten, kleineren Tier genähert. Sehen Sie - das ist diese Spur. Und jetzt schauen Sie hier...« Vesna überblättert mehrere Zeichnungen. »Sie haben sich gegenüber gestanden. Das ist für sich genommen nicht so bemerkenswert, nicht wahr? Aber schauen sie genauer hin! Als ob sie sich in diese Richtung umgedreht hätten, aber immer noch einander zugewandt...«
»Vielleicht haben Sie gekämpft«, vermutet Professor Šarić.
»Nein, das glauben wir nicht.« Vesna betrachtet die Zeichnung. »Dafür sieht es zu geordnet aus. Seit einigen Woche schon versucht das gesamte Team, sich einen Reim darauf zu machen. Aber es ist uns nicht gelungen. Vielleicht werden wir nie erfahren, was es zu bedeuten hat«, seufzt sie.
Der Professor studiert die Zeichnungen genauer und runzelt konzentriert die Stirn. Das Muster der Fußabdrücke kommt ihm irgendwie bekannt vor. Bis...
Verdammt, es kann nur... Aber das ist unmöglich!
Trotzdem - wenn es menschliche Füße wären, gäbe es nicht die Spur eines Zweifels, keinen Moment lang. Er beginnt kaum hörbar eine Melodie zu summen, und Vesna sieht ihn verwirrt an.
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