Ein Apfel.
Der Apfel.
Der Tambara-Apfel.
Waren sie nicht alle gleich, diese Äpfel? Ein Apfel sah doch aus wie der andere? Früher, so überlegte sie, da gab es große und kleine Äpfel, dickbäuchige und schlanke, Äpfel mit grünen, gelben, roten oder bunt gefärbten Schalen, mit süßem Fruchtfleisch oder herzhaftem Innenleben. Wie sie gehört hatte, bevorzugten die Kunden von damals sehr unterschiedliche Geschmacksrichtungen und kauften ihren Vorstellungen entsprechend auch ganz verschieden ein. Heutzutage gab es nur einen Apfel: den Tambara-Apfel. Er sah immer gleich aus: groß und gelb, mit einem Hauch von Rot und Grün an einer Seite. Vor gar nicht allzu langer Zeit konnten die Bewohner der Stadt noch zwischen zwei miteinander konkurrierenden Apfelsorten wählen. Doch dann kam der Tambara-Apfel. Er war größer als seine Vorgänger, fester im Fleisch und extrem haltbar – schlichtweg konkurrenzlos. In kürzester Zeit verschwanden die beiden alten Sorten vom Markt.
Soul platzierte ihre Unterarme auf der Schreibtischplatte, bettete das Kinn auf die übereinandergelegten Hände und begutachtete die Frucht aufs Neue. Auch aus dieser Perspektive betrachtet, war es immer noch ein Tambara-Apfel: groß und gelb, mit einem Hauch von Rot und Grün an einer Seite.
So sinnierend fand Reb seine Schwester, als er sie nach dem Frühstück aufsuchte, um mit ihr die Pressereaktionen durchzugehen.
„Nanu?“, wunderte er sich. „Bei welch wichtiger Gedankensitzung habe ich dich denn gerade gestört?“
Soul hob den Kopf.
„Findest du nicht auch, dass dies ein ganz besonders schöner Apfel ist?“, fragte sie, ohne auf seine Neckerei einzugehen.
„Mag sein“, entgegnete Reb halbherzig und steuerte auf das Sofa zu.
„Findest du nicht, dass dies ein ganz besonders schöner Apfel ist?“, wiederholte seine Schwester die Frage und schaute weiter unbeirrt auf den Gegenstand ihrer Unterhaltung.
Reb wusste nicht so recht, was er davon halten sollte.
„Es ist halt ein Tambara-Apfel.“
Als Soul nichts entgegnete, fügte er hinzu: „Ein Tambara-Apfel ist immer schön, sonst wäre er kein Tambara-Apfel.“
„Genau das meine ich.“
„Also komm, Schwesterchen, worauf willst du hinaus?“
Soul setzte sich auf und blickte ihren Bruder an.
„Du hast es gerade selber schon gesagt. Er muss schön sein, weil er ein Tambara-Apfel ist. Dieser Apfel ist nämlich genau definiert: seine Größe, seine Farbe, die Konsistenz des Fruchtfleisches, der Geschmack. Das heißt, wir brauchen uns gar nicht erst den Kopf darüber zu zerbrechen, ob er schön ist. Wir wissen, dass er es ist, sonst hätte er in unserer Gesellschaft nicht überlebt.“
„Ich weiß, was du meinst“, erwiderte Reb, „aber lass uns jetzt die Sonntagszeitung ausdrucken.“
Doch Soul war noch nicht fertig.
„Vielleicht ist er ja gar nicht schön.“
Reb stieß einen Seufzer aus und ließ sich auf das Sofa plumpsen.
„Woher wollen wir eigentlich wissen, wie ein schöner Apfel aussieht? Die meisten von uns haben doch noch nie einen anderen Apfel zu Gesicht bekommen. Vielleicht waren die ausgestorbenen Sorten ja auch schön. Vielleicht waren sie sogar noch schöner als dieser Apfel hier. Wie wollen wir das überhaupt beurteilen? Uns fehlt doch der Vergleich.“
Reb blieb unbeeindruckt.
„Der Markt hat verglichen.“
Seine Antwort machte Soul wütend.
„Himmel, ich weiß, dass unser Alltag marktwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Aber schließlich mussten Forscher durch gezielte Veränderungen des Erbgutes diese Frucht doch erst einmal entwickeln.“
„Richtig, und dann hat der Markt entschieden. Und geforscht wurde immer schon nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten.“
„Aber vielleicht waren unter den vielen dazwischenliegenden Entwicklungsstufen ja auch attraktive Sorten. Vielleicht gab es sogar unter den natürlich gewachsenen Äpfeln schöne Exemplare, und vielleicht schmeckten einige von ihnen ja sogar besonders gut.“
Reb wusste, wenn seine Schwester sich in ein Thema verbissen hatte, war mit ihr nicht zu spaßen. Also holte er ein wenig aus.
„Wie du weißt, konnten die natürlichen Äpfel unseren Ansprüchen irgendwann nicht mehr genügen. Die im Labor entworfenen Früchte sahen besser aus, waren widerstandsfähiger und da die natürlichen Äpfel niemand mehr kaufte, pflanzte auch niemand mehr Bäume mit diesen Sorten an. Davon abgesehen hatte sich das Erbgut der Gen-Äpfel längst mit dem der Naturfrüchte vermischt. Die Vorstellung, Samen manipulierter Pflanzen auf Dauer vom natürlichen Bestand fernhalten zu können, erwies sich als Illusion. Die Wissenschaftler hatten die Macht der Evolution schlichtweg unterschätzt. Und da sich das Erbgut der Laborprodukte aufgrund der höheren Widerstandskraft durchsetzte, starben die natürlichen Früchte allmählich aus. Was übrig blieb, waren Mischsorten. Das heißt, Natur oder natürlich gezogene Pflanzen ohne gentechnische Veränderung gab es ja sowieso schon lange nicht mehr. Aber auch diese Mischfrüchte, die bei unseren Vorfahren noch in freier Wildbahn wuchsen, verschwanden allmählich von der Erdoberfläche. Man brauchte mehr Platz für die guten und schönen Äpfel, die auf dem Markt bestanden. Die besten haben überlebt. Heutzutage gibt es eben nur noch den Tambara-Apfel, die Lianca-Birne, die Chicotora-Banane. Die meisten Kunden haben sich vor langer Zeit für diesen Apfel entschieden. Immerhin gehört Tambara zu den wenigen Städten auf unserem Erdball, die sich mit der Entwicklung einer marktbeherrschenden Design-Frucht schmücken können.“
„Weißt du was“, unterbrach Soul ihren Bruder, „ich besäße gern einmal einen natürlichen Apfel, einen von der Art, wie er auf der Erde wuchs, noch bevor die Menschen die Gentechnik entdeckten.“
„Und was würdest du mit ihm anfangen?“
„Ich würde ihn essen und ausprobieren, wie er schmeckt. Vielleicht schmeckt er ja ganz gut. Vielleicht schmeckt er mir, und ich betone ausdrücklich ‚mir’, ja sogar noch besser als unser Tambara-Apfel. Und vielleicht wäre er auf seine eigene, ganz besondere Art ja sogar schön.“
„Schön ist, was sich verkaufen lässt und auf dem Markt besteht!“
Reb wollte nun endlich seine Zeitung lesen.
„Ja, ich weiß, und die Katze beißt sich in den Schwanz.“
Missmutig wandte Soul sich ihrem Computer zu. Geräuschlos spuckte das Gerät die Sonntagszeitung aus.
Der Schriftzug des Titels fiel sofort ins Auge: „Triumph der Forschung – Fotografien vergangener Jahrhunderte dokumentieren medizinischen Fortschritt.“
Neugierig breiteten die Geschwister das Endlospapier auf dem Fußboden aus.
Reb hatte recht behalten. Seine Kollegen waren verlässlich. In ihrem Artikel lobten sie die Fleißarbeit des Medienfachmannes, beschrieben die einzelnen Abteilungen der Ausstellung, Größe, Art und Zusammenstellung der präsentierten Fotografien und vermerkten lobend, wie dem aufmerksamen Besucher beim Rundgang durch die Ausstellung bewusst würde, mit welch enormem Fortschritt der Alltag der modernen Menschheit gesegnet sei. Nur eine kleine Notiz am Ende des Artikels verwies auf Bezugsquellen weiterführender Literatur. Souls Jazzkonzert wurde als ungewöhnlicher, aber schmackhafter Kunstgenuss eingestuft, der Auftritt des Louis-Armstrong-Doubles als Höhepunkt herausstaffiert und als Hintergrundinformation gab es detaillierte Beschreibungen über Maske, Kostüme und Beleuchtungseffekte. Kein Wort über die Geschichte des Jazz, über den kulturellen Hintergrund oder das damit verbundene Lebensgefühl. Nichts …, doch, wieder diese unscheinbare Fußnote am unteren Seitenrand. Dem Durchschnittsleser mochte sie nicht viel sagen. Auf ergänzende Quellen wurde an solchen Stellen häufig hingewiesen, auch wenn kaum ein Abonnent heutzutage noch die Zeit fand, sich eingehender mit Zeitungsnotizen dieser Art auseinanderzusetzen. Wer sich jedoch mit solch oberflächlicher Information, wie der Artikel sie lieferte, nicht begnügen wollte, konnte im Net mithilfe der Schlüsselwörter ausführliche Erläuterungen zu den Schlagzeilen abrufen – vorausgesetzt, die Regierung hatte die Seiten noch nicht gelöscht.
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