Der junge Mann folgte ihr seufzend.
Reb setzte seinen Ausstellungsführer auf und vertiefte sich selbst noch einmal in das Bild von der Operation.
„Stichwort ‚Organspende’“, sprach er in das Mikrofon.
Auf dem Bildschirm erschien eine Filmszene, die zwei Chirurgen bei einer Herztransplantation zeigte. Eine angenehme weibliche Stimme sprach dazu: „Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts standen noch keine nachwachsenden Organe aus dem Labor zur Verfügung. Ein Patient mit einem kranken Herzen zum Beispiel musste warten, bis ein Mitglied der Gesellschaft starb, um sich das Organ dieses Menschen einpflanzen zu lassen. Es gab regelrechte Wartelisten. Der Eingriff war mit etlichen Risiken verbunden. Nicht alle Patienten wachten aus der Narkose wieder auf. Gelang die Operation, war der Patient noch lange nicht gerettet. Manchmal stieß der Körper das neue Organ ab …“
Reb verzog das Gesicht und klappte den Bildschirm hoch.
Nach und nach füllte sich der Raum. Mit zunehmender Zuschauerdichte schien auch das Interesse an den Fotos zu wachsen. Vor dem Bild eines Klonkindes, das gerade sechs Kerzen auf einem Geburtstagskuchen ausblies, stand ein Mann Mitte vierzig und befragte sein Mikrofon.
„In welchem Alter erfuhr ein Klonkind von seinen Zieheltern, dass es nicht auf natürlichem Wege geboren worden war?“
„Nicht geboren – gezeugt“, mischte sich Reb ein.
„Wie bitte?“
Der Besucher blickte sich nach dem Störenfried um.
„Entschuldigung, ich wollte nur helfen. Auf den Begriff ‚geboren’ reagiert der Computer nicht. Benutzen Sie ‚gezeugt’.“
„Ach so, ja danke.“
Der Mann wiederholte die Frage. An seinem Gesicht konnte Reb ablesen, dass er die richtige Stelle gefunden hatte.
Im selben Raum hing auch die Fotografie eines Hochzeitspaares. Zwei Mitglieder der Wissenschaftsgruppe hatten geheiratet. Reb horchte auf die Fragen, die die Zuschauer im Glauben sicherer Anonymität ihrem Ausstellungsführer stellten.
„Wie viele Klonmenschen ließen ihre eigenen Kinder klonen?“
„Wie viel Prozent bevorzugten den natürlichen Zeugungsvorgang?“
„Gab es Klone, die normale Menschen heirateten, oder beschränkte sich diese Spezies bei der Partnerwahl auf ihresgleichen?“
„Na, wie läuft’s?“
Aufgeschreckt fuhr Reb herum.
„Ach, du bist’s.“
„Alles in Ordnung?“, fragte Soul besorgt.
„Aber natürlich.“
„Bist du sicher?“
Reb ergriff den Arm seiner Schwester und führte sie behutsam zum Fenster.
„Schau mal, Schwesterchen, wir halten uns doch nur an das, was wir gelernt haben. Wir zeigen den Besuchern, dass es ihnen, dank der Bemühungen unserer Gesellschaft, immer und überall das Bessere durch das Beste zu ersetzen, heute so gut geht wie nie zuvor. Sollten einige Bürger unsere Ausstellung zu eigenen Interpretationen nutzen, die sich unter Umständen als nicht ganz staatskonform erweisen …, was können wir dafür?“
Souls Blick fiel auf das riesige Eingangstor des Medienkonzerns. Kraftstrotzend setzte sich die leuchtend weiße Neonschrift von dem blauen Gebäude ab. Ihr Licht überflutete den ganzen Vorplatz und vermittelte dem Betrachter ein Gefühl von Ehrfurcht gebietender Unumstößlichkeit. Über dem Eingang stand der Leitsatz der Stadt Tambara: „Das Beste bleibt.“
Sie hatten den Präsidenten der Christie’s Group of Music-Design überreden können, die Aufführung des Jazzkonzerts nicht wie sonst üblich im Musikkonzern, sondern ausnahmsweise im Zentralraum des Mediencenters stattfinden zu lassen. Die in fast allen Firmen im Gebäudemittelpunkt errichteten Zentralräume wurden hauptsächlich für Werbezwecke in eigener Sache genutzt. Hier präsentierte jeder Konzern seine Neuerscheinungen, organisierte Tagungen zu aktuellen Produktentwicklungen oder Ausstellungen zur Firmengeschichte und Managementphilosophie. Die Weltkonzerne für Mode, Medien, Medizin, Musik, Verkehrsmittel und andere Notwendigkeiten des täglichen Lebens standen in starker Konkurrenz zueinander, und so ließ sich auch der Präsident des Musikkonzerns nur ungern zu einem Verzicht auf solch einen Leckerbissen überreden. Doch als alter Freund der Familie gab er schließlich Rebs Drängen nach, zumal er einsah, dass die ausgesuchten Darbietungen zum zeitlichen Rahmen der Fotoausstellung passten und diese wunderbar ergänzen würden. Reb hatte, hartnäckig wie er war, ein paar Schwarz-Weiß-Fotos berühmter Jazzmusiker auftreiben können, die nun die Wände des zum Konzertsaal umfunktionierten Zentralraumes schmückten.
Im Innenbereich des dreigeteilten Gewölbes hatten sie eine viereckige, von allen Seiten durch Treppenstufen erreichbare Bühne aufgebaut und mit Reihen aus schwarzledernen Regiestühlen umgeben. Das Orchester spielte auf einer drehbaren Plattform, die dem Publikum in regelmäßigen Abständen eine neue Perspektive präsentierte. Die gedämpfte Beleuchtung verlieh dem vornehmlich in warmen Schwarztönen gehaltenen Ambiente ein extravagantes Flair und bildete den idealen Hintergrund für einen musikalischen Abend von außergewöhnlicher Exklusivität.
Der Veranstaltungssaal war an seinen Außenseiten durch eine Vielzahl von Durchgängen in Form arkadenartiger Rundbögen mit einem breiten Gang verbunden, der um den gesamten Innenbereich herumführte. Durch seine hellen Wände wirkte dieser zweite Teil des Zentralraumes besonders geräumig. Auf blauschwarzem Kunststoffmarmor standen, gruppiert um niedrige Acrylglastische, Sitzgruppen aus weißem Leder, großzügig geschnittene Zwei- und Dreisitzer und bequeme Einzelsessel, denen in unregelmäßiger Folge eine Reihe künstlicher Phönixpalmen zur Seite gestellt worden war. Wer hier saß, suchte ein stilles Musikerlebnis, wollte die Show ohne großen Rummel genießen oder sich bei angenehmer Musik ein wenig unterhalten. Auch der Mittelraum wurde an seiner Außenseite von Rundbögen begrenzt. Sie waren etwas kleiner als ihre Pendants an der gegenüberliegenden Seite und spärlicher an der Zahl, sodass sie noch genügend Wand übrig ließen, an die Reb seine Jazzfotos hatte hängen können.
Der dritte Bereich bestand aus einem weiteren Rundgang mit großen ausladenden Tischen für bunt gemischte Gesellschaften, etlichen Buffets und einigen Bars. In diesen Hallen konnte man nach Herzenslust dinieren, diskutieren oder ausgelassen feiern und durfte auch ein wenig laut werden, ohne Angst haben zu müssen, die Vorführung zu stören. Neuartige Materialien und eine ausgeklügelte Bauweise sorgten dafür, dass die Musik in unterschiedlicher Lautstärke in allen drei Gewölben des Zentralraumes zu hören war, die Stimmen und Hintergrundgeräusche aus den Rundgängen jedoch nur in unbedeutendem Maße in den Veranstaltungssaal eindringen konnten.
Soul hatte sich einen Imbiss geholt und sich in einem der vielen weißen Sofas im Mittelraum niedergelassen. Hier war es um diese Zeit noch am ruhigsten. Nur wenige Besucher saßen in den Sitzgruppen, plauderten leise oder gaben sich entspannt und teils mit geschlossenen Augen dem Musikgenuss hin.
Soul platzierte den Teller mit dem Imbiss auf ihren Knien und versuchte, sich auf die Mahlzeit zu konzentrieren. Doch während sie das Fleisch mit dem Messer zerteilte, wanderten ihre Gedanken immer wieder zurück zu den Ereignissen der letzten Tage. Warum nur war sie nach dem Tod der Mutter nicht sofort informiert worden? Ein Autounfall, hatte es geheißen, die Fahrerin wäre noch an der Unfallstelle gestorben. Doch an jenem Tag war ihre Mutter mit zwei Freundinnen im hauseigenen Fitnesscenter verabredet gewesen. Wie passte da eine plötzliche Autofahrt ins Bild? Der Leichnam wäre völlig zerstückelt gewesen – kein schöner Anblick für eine Tochter von gerade einmal fünfundzwanzig Jahren.
„Einäscherung aus ästhetisch-psychologischen Gründen“, hatte auf dem Formular gestanden, „ohne vorherige In-Kenntnis-Setzung der Angehörigen.“
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