Planlos wie ich war, hatte ich nicht einmal ein mögliches Dissertations-Thema. «Irgendwas mit Sozialversicherungsrecht», war mein Wunsch. Thomas Gächter unterbreitete mit daraufhin ein paar Vorschläge und ich wählte das ungeheuer weite Feld «Angehörigenpflege». Seine damalige Assistentin Brigitte Blum-Schneider gab mir Starthilfe und so fing ich an zu diesem Thema zu recherchieren und schreiben. Einige Monate, nachdem ich mit meiner Dissertation begonnen hatte, bot mir Thomas Gächter eine Assistentenstelle bei ihm am Lehrstuhl an. Eine Teilzeitstelle! Mit allen Freiheiten der Welt! Flexible Arbeitszeiten, freie Arbeitsgestaltung, Möglichkeit zum Home-Office. Ich war im Paradies gelandet. Der einzige Nachteil: So eine Stelle und so einen Chef gibt es kein zweites Mal. Gibt es doch, wie ich mittlerweile weiss. [1]
Ich bekam von Thomas Gächter zahlreiche Publikationsmöglichkeiten, die mir bis heute viele Türen geöffnet haben und sicher weiterhin öffnen werden. Gerade mein Dissertationsthema «Angehörigenpflege» ist in den letzten Jahren stark in den Fokus der Politik gerückt.
Da das Thema «Angehörigenpflege» extrem breit ist und niemand genau weiss, wer denn eigentlich diese «Angehörige» sind, habe ich mein Thema darauf eingeschränkt, die sozialversicherungsrechtliche Absicherung unentgeltlich pflegender Personen im Erwerbsalter zu untersuchen. [2]Ich klärte ab, was informell pflegende Personen von den Sozialversicherungen für ihre Arbeit erhalten (nichts [3]), was die gepflegte Person von den Sozialversicherungen zur Finanzierung ihrer informellen Pflege erhält (wenig [4]) und wo der informell pflegenden Person Lücken in ihrer eigenen sozialversicherungsrechtlichen Absicherung entstehen (überall [5]), wenn sie ihr Arbeitspensum wegen der hohen Pflegebelastung reduzieren oder aufgeben muss.
Meine Dissertation erschien im Jahr 2016. In den letzten fünf Jahren scheint das Thema das Interesse der Politik und der Bundesämter geweckt zu haben. Ich erhielt im letzten Jahr und diesem Jahr verschiedene Anfragen, mich zu diesem Thema zu äussern. Tatsächlich wurde auch einiges im Bereich der «Angehörigenpflege» gemacht. Wurde aber genug getan?
Ausgangslage
Überalterung der Gesellschaft
Warum ist das Thema «pflegende Angehörige» überhaupt so wichtig? Laut einer OECD-Studie aus dem Jahr 2011 über Pflegebedürftigkeit und deren Auswirkungen droht eine Überalterung der Gesellschaft. [6]Zumindest für die Schweiz scheint sich diese Prognose zu verwirklichen: Im Jahr 2019 gehörten bereits 18,7% der Wohnbevölkerung zur Gruppe der über 64-Jährigen. Parallel dazu steigt auch die Anzahl der pflege- und betreuungsbedürftigen Personen. Die Klientel von ambulanten Pflegediensten wuchs auf 394‘400 Personen an. Dazu kommen etwa 164‘600 pflegebedürftige Personen in den Pflegeheimen der Schweiz. [7]Die Anzahl der pflegebedürftigen Personen in der Schweiz wird also in den nächsten Jahren weiter ansteigen. [8]Obwohl viele Menschen bei guter Gesundheit ein hohes Alter erreichen, steigt auch die Anzahl der pflegebedürftigen Personen. [9]
Auch die Anzahl der an Demenz erkrankten Personen steigt: Aktuell leben in der Schweiz über 144‘300 Menschen mit Demenz und verursachen Gesamtkosten von geschätzten CHF 11,8 Mrd., wovon CHF 5,5 Mrd. von den Angehörigen getragen werden. Diese Kosten entsprechen dem Marktwert der unbezahlten Pflege- und Betreuungsleistungen durch Angehörige und Nahestehende. [10]Die demografische Entwicklung in der Schweiz wird auch in naher Zukunft eine der grossen politischen Herausforderungen bleiben.
Zur Überalterung der Gesellschaft hinzu kommt ein Mangel an qualifizierten Pflegefachkräften, welcher sich in Zukunft zu verschärfen droht. Da die Politik diesbezüglich weitgehend untätig blieb, lancierte der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) eine eidgenössische Volksinitiative für eine starke Pflege. Die Initiative hat zum Ziel, dem Pflegekräftemangel durch Massnahmen wie die staatliche Unterstützung der Aus- und Weiterbildung von Pflegefachkräften, Erhöhung des Ausbildungslohnes und der Definition und Förderung von Weiterbildung entgegenzuwirken. Der indirekte Gegenvorschlag des Parlaments wurde am 19. März 2021 verabschiedet. [11]
Ein grosser Teil der Pflege- und Betreuungsaufgaben wird durch informell pflegende Personen, wie eben Angehörige, abgedeckt. Ungefähr 600‘000 Personen – Kinder, Jugendliche, Erwachsene und gar hochaltrige Personen – übernehmen in der Schweiz Betreuungsaufgaben für Angehörige, wovon rund zwei Drittel der Erwachsenen mit Betreuungsaufgaben erwerbstätig sind. Die zahlenmässig grösste Gruppe an betreuenden Angehörigen sind Frauen und Männer im Alter von 50 bis 65 Jahren. [12]
Im Hinblick auf den drohenden bzw. den sich bereits verwirklichten Pflegekräftemangel wird der Pflege und Betreuung durch informell pflegende Personen immer grössere Bedeutung zukommen. [13]
Aus diesen beiden Gründen – der Überalterung der Gesellschaft und der damit einhergehenden steigenden Anzahl von pflege- und betreuungsbedürftigen Personen sowie dem Pflegekräftemangel – wird die Übernahme von Pflege- und Betreuungsaufgaben durch informell pflegende Personen an Bedeutung gewinnen. Durch die Kombination der Überalterung mit dem Pflegekräftemangel droht die Versorgung von pflege- und betreuungsbedürftigen Personen durch formelle Pflege und Betreuung allein nicht mehr gesichert zu sein. Zudem stellt sich die Frage nach den Kosten, d.h. wie soll künftig sowohl die formelle als auch die informelle Pflege und Betreuung finanziert werden? In Bezug auf die informelle Pflege sind die Kosten zwar vorläufig aufgeschoben, aber lange nicht aufgehoben. [14]
Probleme
Absicherung der informell pflegenden Person
Ein grosses Problem ist die fehlende sozialversicherungsrechtliche Absicherung der informell pflegenden und betreuenden Personen. Oft wächst der Pflege- und Betreuungsaufwand so stark, dass die informell pflegende Person – wenn sie noch im Erwerbsleben steht – ihr Arbeitspensum reduzieren oder ihre Erwerbstätigkeit gänzlich aufgeben muss. Problematisch ist, dass unser Sozialversicherungssystem weitegehend an den Erwerbsstatus knüpft und auf kontinuierliche Erwerbsbiografien in Vollzeit bei einem einzigen Arbeitgeber ausgerichtet ist. Fällt eine Person nicht in dieses Schema, können ihr schnell Lücken in ihrer eigenen sozialversicherungsrechtlichen Absicherung, insbesondere der Unfallversicherung und der beruflichen Vorsorge entstehen. Da die Höhe des Erwerbseinkommens auch massgebend Einfluss auf die Höhe von Taggeldern und Rente hat, wirkt sich Teilzeiterwerbstätigkeit direkt auf das Leistungsniveau aus. [15]
Auch wird die informelle Pflege durch die Sozialversicherungen kaum entschädigt, d.h. informell pflegende Personen erhalten keinerlei Vergütungen für ihren Erwerbsausfall. [16]Die pflegebedürftige Person erhält gewisse Leistungen, welche sie zur Entschädigung einer informell pflegenden Person einsetzen könnte. Die Beträge sind aber relativ tief angesetzt und reichen kaum, diese Personen angemessen zu entschädigen, geschweige denn auch noch ihre sozialversicherungsrechtliche Absicherung damit sicherzustellen. [17]
Da die Rente der Alters- und Hinterlassenenversicherung nicht existenzsichernd ist, und es in den meisten Fällen auch an der beruflichen Vorsorge sowie der 3. Säule fehlen wird, werden diese Personen später auf Ergänzungsleistungen oder sogar Sozialhilfe angewiesen sein. [18]Was dank informeller Pflege vorgängig eingespart wurde, wird später in Form von Bedarfsleistungen wieder ausgegeben. Das macht volkswirtschaftlich betrachtet wenig Sinn.
Die Erhaltung der Erwerbstätigkeit von informell pflegenden Personen dient nicht nur dazu, diese Menschen vor Armut im Alter zu bewahren, sondern ist auch eine wichtige Massnahme zum Schutz ihrer eigenen Gesundheit. Erwerbstätigkeit stellt nicht nur ihre finanzielle Unabhängigkeit sicher, sondern sorgt auch dafür, dass sie sozial integriert bleiben. Hier stehen auch die Arbeitgebenden und die Sozialpartnerinnen und -partner in der Pflicht. Mit flexiblen und zuverlässigen Lösungen können sie zu einer besseren Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung beitragen. [19]
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