Es war die Zeit nach der Französischen Revolution mit all ihren Grausamkeiten und nicht eingehaltenen Versprechen. Napoleon Bonaparte hatte in Frankreich die Macht übernommen und sich sofort in militärische Konflikte mit den Nachbarländern Preußen, Österreich und Russland gestürzt. Als Karl Eduard fünf Jahre alt war, hatte Napoleon bereits den Höhepunkt seiner militärischen Stärke erreicht und die verbündeten Armeen Österreichs und Russlands in der Schlacht von Austerlitz besiegt. Von seinen Erfolgen beflügelt, nahm er sich als Nächstes Preußen vor. Das Trützschlersche Schloss wurde belagert, weshalb Karl Eduard und seine Mutter beim Großonkel, Baron von Zedlitz, auf Schloss Schwentnig in Schlesien in Sicherheit gebracht wurden.
Wenige Jahre später starb der alte Baron und Schwentnig ging in den Besitz von Gottlieb von Trützschler, Karl Eduards Vater, über. Gottlieb stellte beim preußischen König den Antrag, künftig beide Namen Zedlitz und Trützschler führen zu dürfen. Der König genehmigte nicht nur diesen Antrag, sondern erhob ihn auch in den erblichen Grafenstand. Im Register der preußischen Aristokratie wurde ein neuer Eintrag vorgenommen: Gottlieb Graf von Zedlitz und Trützschler. Seit dieser Zeit besteht das Familienwappen aus der rot-silbernen Schwertgurtschnalle der Familie Zedlitz und dem schwarz-gelb uniformierten Soldaten der Trützschlers.
Karl Eduard, der zweite Graf von Zedlitz und Trützschler, war der Erste seiner Familie, der die Universität besuchte – die Friedrich-Wilhelm-Universität (seit 1945 Humboldt-Universität) in Berlin. Dort lernte er die Baronin Ulrike von Vernezobre de Laurieux, eine außergewöhnliche Schönheit französisch-hugenottischer Abstammung, kennen, die er später heiratete. Aus dieser Ehe gingen sechs Kinder hervor, das letztgeborene, Sohn Robert, kam im Jahr 1837 auf Schloss Schwentnig zur Welt. Kurz nach seiner Geburt erkrankte Ulrike an Tuberkulose und starb.
Karl Eduard wurde einige Zeit später in die schlesische Hauptstadt Breslau versetzt, wo er einen Posten in der Verwaltung übernahm. Im Alter von 13 Jahren trat Robert in das Gymnasium zu Breslau ein. Schloss Schwentnig wurde zu einem Landsitz, auf den sich der Graf mit seiner Familie nur an Festtagen und während des Urlaubs zurückzog. Für Robert begann eine Zeit der Unruhe und Zerstreuung; für ihn waren weder der akademische Unterricht am Gymnasium noch die Gemeinschaft mit den anderen Schülern von Interesse.
Es war das Jahr 1853 und in ganz Preußen – von den anderen deutschen Staaten ganz zu schweigen – begannen die Ideale des Nationalismus und modernen Liberalismus Fuß zu fassen. Tatsächlich bedrohten sie die bestehenden Institutionen von allen Seiten. In den Städten organisierten sich die Arbeiter zum Kampf gegen die mit der industriellen Revolution einhergehende Ausbeutung. Zum ersten Mal gesellten sich zu den Arbeitern auch Intellektuelle und Kaufleute im Kampf für das allgemeine Wahlrecht. Die alten preußischen Institutionen, die sich jahrhundertelang auf drei unterschiedliche, jedoch miteinander verflochtene Klassen stützten, wurden langsam, aber sicher untergraben.
Die Französische Revolution und die Dekade der Triumphe Napoleons hatten eine zweifache Wirkung auf diese Entwicklungen. Seine Reformen bei der Ausübung der Regierungsgewalt und dem Militär beeindruckten diejenigen, die Reformen in Preußen für nötig erachteten. Die Erniedrigung Preußens jedoch bewegte Deutsche aller politischen Richtungen und sozialen Klassen. Es entwickelte sich neues Gedankengut: die Idee des befreienden Nationalismus, der in einer Föderation deutscher Staaten zum Ausdruck kommen sollte.
Diese Idee fand Robert im Alter von 16 Jahren äußerst attraktiv. Ohne seine akademische Bildung abzuschließen, verließ er daher das Gymnasium und wurde Offiziersanwärter im 6. Preußischen Kürassier Regiment. Mit 19 Jahren erhielt er sein Leutnantspatent im preußischen Offizierskorps und wurde zu dem begehrtesten aller preußischen Regimenter versetzt – der Garde du Corps.
Später schickte ihn der König nach Frankreich, wo er den Aufbau und die Ausbildungsmethoden studieren sollte, mit denen die Franzosen die stärkste militärische Macht in Europa aufgebaut hatten. In Paris lernte er Otto von Bismarck, den preußischen Botschafter in Frankreich, kennen, der später die deutsche Politik und eigentlich fast ganz Europa beeinflussen sollte. Durch seine Freundschaft mit Bismarck wurde Robert in die französische Gesellschaft eingeführt. So begann, im Bewusstsein seiner französischen Herkunft mütterlicherseits, seine große Vorliebe für die französische Kultur. Robert war von der Lebensqualität des Landadels fasziniert und begann davon zu träumen, in Schlesien Land zu kaufen, um dort die kultivierte Lebensweise der Heimat seiner Mutter einzuführen und seinen Lebensunterhalt mit der Landwirtschaft zu verdienen.
In seinen Träumen beschäftigte sich Robert auch mit der Aussicht auf Heirat, da er sich in Agnes von Rohr aus Dannenwalde verliebt hatte. Die Rohrs, eine alte, aristokratische Familie aus Brandenburg, standen dem König weit näher, als es die Zedlitz jemals taten. Nach Roberts Vorstellung war Agnes die geborene Herrin eines großen Landsitzes. Eine Karriere in der preußischen Armee verlor für ihn daher schnell ihren Reiz.
Als zweiter Sohn Karl Eduards würde Robert ohnehin nie Erbe von Schwentnig werden, wenngleich es das einzige wirkliche Zuhause war, das er je gekannt hatte. Trotzdem schrieb er seinem Vater von seinen Hoffnungen und Träumen und Karl Eduard stellte vertraulich und diskret einige Nachforschungen an.
Sofort nach Beendigung seines Aufenthalts als Offizier in Frankreich machte sich Robert mit dem Zug auf nach Schwentnig, durch Franken und Thüringen, durch Landstriche, die seine kriegerischen Vorfahren zu Fuß oder auf Pferden durchquert hatten, bis nach Schlesien zum Schloss Schwentnig. Karl Eduard hieß seinen Sohn willkommen und machte ihm folgenden Vorschlag: Er hatte soeben einen der schönsten Landsitze in ganz Schlesien erworben, das 1 700 Morgen große Gut Niedergroßenborau (im Folgenden Großenborau genannt). Dies sollte sein Hochzeitsgeschenk für Robert sein, der es verwalten und später erben sollte unter der Bedingung, das Gut niemals zu verkaufen, zu teilen oder Hypotheken auf das Land aufzunehmen. Der Vorschlag wurde ohne Einschränkung angenommen.
So waren Roberts Tage als Junggeselle und Soldat fast zu Ende. Vor ihm lag die vorhersehbare Zukunft eines Familienvaters und preußischen Landbesitzers. Im Europa des 19. Jahrhunderts jedoch war die Zukunft alles andere als vorhersehbar geworden.
I
Die Gräfin von Grossenborau
1867 –1886
»Konts Ruth«
Früh an einem kalten Februarmorgen werden die Bauern in Großenborau vom Läuten der Kirchenglocken geweckt. Die meisten von ihnen eilen zum Hoftor des Gutshauses, wo die Hausdame, ein breites Lächeln auf dem Gesicht, bereits wartet. Seit Robert und Agnes, Graf und Gräfin von Zedlitz und Trützschler, als frisch getrautes Ehepaar in Großenborau einzogen, ist es das dritte Mal. Damals betrachteten die stolzen Dorfbewohner die neuen Herrschaften mit einer Mischung aus Hoffnung und Angst – Hoffnung, der neue Besitzer des alten Guts würde Reformen einführen, um so die kränkelnde Landwirtschaft zu retten, und Angst, er könnte dieser streng katholischen Gemeinde den evangelisch-lutherischen Glauben aufzwingen. Ihre Hoffnungen wurden bald erfüllt, ihre Ängste aber zerstreut. Großenborau hat noch immer seinen katholischen Priester. Unter der Aufsicht von Graf Robert wurde sogar die alte Fachwerkkirche renoviert und neu ausgestaltet.
Die Kirche, nur durch einen bescheidenen Friedhof vom Gutshaus getrennt, ist so nah, dass die Hausdame es nicht vermag, sich bei dem Glockengeläut Gehör zu verschaffen. Die Dorfbewohner jedoch sind geduldig – ein Charakterzug, der sich im Laufe der Jahrhunderte des Feudalismus in diesem alten Land entwickelt hat. Sie wissen, der Priester wird die Glocken erst verstummen lassen, wenn seiner Meinung nach eine hinreichend große Menschenmenge zusammengekommen ist.
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