1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Aber sie würde nie eine Autobiografie dieser Art schreiben. Nicht, solange Peg lebte. Weil das nichts wiedergutmachen, die Vergangenheit nicht verändern oder die Menschen zurückholen würde, die Colette geliebt und verloren hatte.
„Ich habe doch nicht den leisesten Schimmer, wie man ein Buch schreibt.“
Er seufzte und versuchte, das Gleichgewicht zu halten, als der Fahrer mit einem Mal mächtig Gas gab und über eine gelbe Ampel rauschte. „Du hast eine Ghostwriterin, Justine Longoria. Erinnerst du dich? Du erzählst, und sie übernimmt den Part mit dem Geschichtenzauber.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass überhaupt jemand etwas über mich lesen will.“
„Jeder will über dich lesen.“ Frustration spiegelte sich in Fords feinen Gesichtszügen. „Du bist eine preisgekrönte Schauspielerin, eine Weltreisende, eine Wortführerin. Du hast sechs Jahrzehnte lang in dieser Serie mitgespielt. Und trotzdem ist dein Privatleben ein einziges großes Geheimnis. Du hast viele Verehrer gehabt, aber keinen Ehemann. Keine Kinder. Seit fünfzig Jahren lebst du im selben Penthouse. Du hast ja noch nicht einmal Katzen oder Hunde.“
„Tiere sterben.“ Sie hatte genug Tode in ihrem Leben gehabt. Menschen. Träume. Liebe.
„Sie bringen aber auch Freude und Trost.“
„Und ich habe doch Kinder.“
Ford lachte leise. „Als Vivica Spenser? Das zählt nicht, Colette.“
„Sprich nicht mit mir, als wäre ich nur einen Satz vom Altersheim entfernt. Die Schauspieler, die Vivicas Kinder gespielt haben, fühlen sich sehr an wie meine eigenen. Caron Seitz und ich sprechen mindestens einmal im Monat miteinander. Und Jenn Baits‘ Kinder nennen mich Granny.“
„Süße Geschichten, aber mich belügst du nicht. Keiner kennt dich wirklich.“ Ford sagte das, während er auf seinem Handy eine Textnachricht beantwortete. „Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich dich so gut kenne.“
„Du kennst mich besser als jeder andere.“
„Dann sag’s mir. Wie geht es dir damit, dass die Serie aufhört? Dass diesen Monat die letzte Folge ausgestrahlt wird?“
„Ich bin …“ Colette hielt inne. Welche Worte passten zu dem Wirbel in ihrer Seele? Traurig? Verloren? Einsam? Solch erbärmliche Worte für eine Frau, die ein Leben lebte, um das andere sie beneideten.
Aber um ehrlich zu sein, gab es wirklich Tage, an denen Colette Greer nicht wusste, wo sie aufhörte und wo Vivica Spenser anfing. Die Frauen wurden zu ein und derselben Person. Die Wirklichkeit der einen war die Fantasievorstellung der anderen. Sie war der vermischte Schatten ihres wirklichen Selbst und ihrer Fernsehfigur.
„Darüber wirst du in meiner Autobiografie nachlesen müssen.“
Fords Gelächter füllte das Taxi. „Touché. Also wirst du das Buch machen?“ Er winkte mit seinem Telefon. „Dann buche ich Justine. Wie steht es mit Montag?“
„Schön, aber nicht zu früh. Ich habe meine Morgen gerne für mich selbst.“
„Dann mittags. Der Verlag wird sich freuen. Ich höre schon die Dollars für die Auslandsrechte klingeln. In Südamerika bist du praktisch eine Göttin.“
„Sie lieben doch nicht mich . Sie lieben Vivica Spenser.“ War es das? Die Welt liebte Vivica, nicht Colette. Bedeutete also das Ende der Serie, dass Schluss war mit der einzigen Liebe, die sie kannte?
„Natürlich lieben sie Vivica. Aber wer ist Vivica schon ohne Colette Greer?“ Fords große Hand umschloss die ihre. „Es wird therapeutisch sein, das Schreiben. Du kannst deine Dämonen verbannen.“
„Du meinst, ich habe Dämonen?“
Bei Colettes letztem Wort hielt das Taxi an einem Bordstein an, wo außer Backsteinbauten nichts weiter zu sehen war.
Ford reichte dem Fahrer seine Kreditkarte, während sie, ohne auf Hilfe zu warten, ausstieg und ihr Gesicht in die dünne, frische Morgenbrise hielt, dem Anblick und den Geräuschen New Yorks entgegen.
Der Herbst in der Stadt war zauberhaft, mit einer Art ätherischen Energie im kühlen Wind, die sie an ihre Kindheit erinnerte. Als sie über den Gehweg gehopst war, auf dem Rasen Rad geschlagen und goldene, rote und orangefarbene Blätter für eine Schatzkiste gesammelt hatte.
„Oberste Etage“, sagte Ford und zeigte auf das Gebäude, als er sich zu ihr gesellte und sein Portemonnaie verstaute.
Beim ersten Schritt geriet Colette ins Schwanken. Der Boden unter ihr schien zu beben. Das war es also. Ihre letzte Zusammenkunft mit der Besetzung.
Das Ende.
Vor ihr lag nichts außer dem blendenden Schein endloser leerer Tage.
„Ich kann nicht …“
„Wie bitte?“ Ford warf einen Blick auf sein klingelndes Telefon und steckte es dann weg. „Was kannst du nicht?“ Er nahm sie vorsichtig am Ellbogen und versuchte, sie vorwärtszubewegen.
„Ich kann da nicht hochgehen, Ford.“ Ihre Stimme versagte, und sie klang schwach, alt, als wäre sie hunderteins und nicht dynamisch und kultiviert mit ihren zweiundachtzig Jahren.
Ford beschattete seine Augen gegen die Morgensonne, die zwischen den Gebäuden hindurchfiel. „Was ist los? Sprich mit mir.“
„Es ist einfach so … vorbei.“ Colette betrachtete Ford einen Moment lang. Dann, ohne großartig durchzuatmen, rief sie Vivica Spenser herbei. Das alte Weibsbild war doppelt so stark wie sie. „Nun, wollen wir?“ Sie lächelte, hob das Kinn und schritt auf das Gebäude zu. „Bart Maverick wird kein gutes Haar an mir lassen, wenn er vor mir ankommt.“
„Colette?“
Sie warf einen Seitenblick auf Ford. „Mir geht’s gut.“
„Bist du sicher?“
„So sicher wie nur was.“ Ein berühmtes Vivica-Spenser-Zitat, das ihr sehr nützlich war.
Ford zeigte ihr den Weg in ein helles, gut beleuchtetes Studio. Musik mit einer leichten, eingängigen Melodie schuf eine heimelige Atmosphäre. Ein angenehmer Tenor sang über Glück.
Ein Teil der anderen Darsteller war bereits angekommen, einschließlich der siebenundneunzig Jahre alten Wilma Potter, die in der Serie Colettes erste Mutter gespielt hatte. Die beiden waren nie miteinander ausgekommen. Wilma hatte es zutiefst verabscheut, Colettes Mutter zu spielen, wo die beiden doch nur fünfzehn Jahre auseinander waren.
Während sie die anderen Darsteller begrüßte, die alten und die neuen, die aktuellen und die, die schon länger nicht mehr dabei waren, ging Colette in Vivicas Schuhen umher und zog den Raum in ihren Bann.
Die ganze Zeit über mied sie die schlanke Blondine, die mit einer ebenso schlanken Brünetten dabei war, die Technik aufzubauen und einzurichten. Sie würde Taylor früh genug begegnen.
Sie stimmte in den Jubel mit ein, als der legendäre Bart Maverick ankam, der den reichen und gut aussehenden Derek VanMartin spielte, Vivicas erste, wahrste Liebe und Patriarch des VanMartin-Vermögens.
„Wunderbare Colette.“ Ohne mit der Wimper zu zucken, zog Bart sie in eine Umarmung und küsste sie. Er machte daraus ein großartiges Schauspiel für alle.
Applaus brandete auf und umfloss sie, durchfloss sie und kam doch nie an. Er fand keinen Platz in ihrem Herzen. Weil sie sich nie nach Applaus gesehnt hatte. Wonach sie sich sehnte, das war die Flucht in eine andere Rolle. Danach, ein Leben zu leben, das von anderen geschrieben wurde.
Als Bart sie losließ, schlug Colette kokett nach ihm. „Du bist mir ein rechter Schmierenkomödiant. Wirst du dich denn nie ändern? Benimm dich doch einmal deinem Alter entsprechend.“
„Das ist doch mein Alter“, sagte er zwinkernd und drehte sich um, um die anderen Darsteller zu begrüßen.
Immer noch ein Charmeur, dieser Bart. Colette wurde bewusst, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Er hatte die Serie wegen einer Herzkrankheit Mitte der Neunziger verlassen, und, nun ja, es war anschließend einfach nicht mehr dasselbe gewesen. Jedenfalls für sie.
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