1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 „Sind wir alle hier?“ Taylor stand vor ihnen, ganz proper in Jeans und einem taillierten Top. Sie war umwerfend. Sie kam Colettes Erinnerungen an Mama so nahe, hatte die Augen der Greers und volle Lippen.
Lästige, verräterische Tränen brannten in Colettes Augen und drohten, sie zu verraten. Sie blinzelte den Schimmer weg, behielt ihr perfektes Lächeln bei und nickte, als Taylors Blick über sie und wieder zurückglitt.
Sie war aber auch schön. Und als sie sie anlächelte, löste sich der Boden unter Colettes Füßen auf, und sie fiel durch die Zeit.
Auf dem Hocker neben dem Herd in ihrem Haus in London sieht sie zu, wie Mama das Abendessen kocht. Sie lacht, als Papas tiefer Bass das Haus erfüllt. Glückliche Weihnachtsfeste am Feuer vor dem Krieg. Wie sie nach der Kirche nach Hause rennt, die Melodie von Gottes großer Liebe in ihrem Herzen.
Gemütliche Abende, an denen sie Mama zuhört, die Gutenachtgeschichten vorliest, während sie sich mit Peg ins Bett kuschelt. In Spitzen und Bänder gekleidet zu Mimi Blantons Hochzeit. In dieser alten Kirche in Nottingham. Sommer an der Küste. Mit Peg auf dem Schiff nach Amerika, so voller Angst und dennoch voller Erwartungen.
Tante Jean und Onkel Fred, Clem und das herzliche Willkommen in ihrem Zuhause.
Jimmy. Jeder Moment mit ihm.
Wie sie Heart’s Bend am Horizont verschwinden sieht, während Spice´ alter Ford auf der Straße nach Norden dahinjagt und ihr die Tränen, die ihre Bluse durchnässen, vom Kinn tropfen.
Sie hielt das keinen Moment länger aus. Colette reckte sich innerlich, um sich aus der Erinnerung herauszuziehen, bekam aber nichts zu fassen außer leerer Luft. Verzweifelt bemühte sie sich darum, sich zu beruhigen.
„Colette, schön, dich zu sehen.“ Taylor bot ihr die Hand an, und Colette gelang die Flucht aus ihrem Tagtraum.
„Schön, gesehen zu werden.“ Das war die erste Antwort, die ihr einfiel. Was konnte sie sonst schon sagen? „Sitzen wir hier?“ Colette zeigte auf das große rote Samtsofa. In ihren Ohren klang sie distanziert und ein bisschen versnobbt. Aber das war die Stimme alter Gemäuer.
„Ja, wenn’s recht ist. Colette hier, in der Mitte.“ Taylor platzierte sie auf den Polstern.
„Natürlich“, sagte Bart. „Colette ist die Sonne, und wir sind ihre Monde.“
„Pscht, du, setz dich einfach neben mich.“ Colette klopfte auf die weiche Oberfläche, vermied es, Taylor anzusehen, mied den stürmischen Schwall der Gefühle, der sie durchströmen wollte.
„Perfekt. Bart Maverick?“, sagte Taylor und streckte ihm die Hand hin. „Ich bin Taylor Branson.“ Sie lächelte und hatte den alten Bart sofort hypnotisiert.
Aber nannte sie sich denn immer noch Branson? Colette musterte Taylor. War sie denn nicht verheiratet? Mit einem Werbetypen, wenn ihr Gedächtnis sie nicht täuschte.
„Addison?“, rief Taylor, die Brünette. „Arrangiere du doch schon einmal das Ensemble, während ich das Licht teste.“
Während sie Taylor beobachtete, kämpfte Colette gegen eine heiße Welle des Bedauerns. Seit sie im Frühling ’51 in New York angekommen war, hatte sie sich nie mehr erlaubt, zurückzublicken, der Vergangenheit nachzuhängen. Weil der Schmerz drohte, ihr zum Verhängnis zu werden.
Aber für den Bruchteil einer Sekunde erschauerte sie, spürte sie einen Funken Wahrheit in sich. Ihr ganzes Leben, all ihre Leistungen waren Müll im Vergleich zu dem, was sie hätte sein können, was sie hätte sein sollen . Und nichts erinnerte sie mehr daran als die schöne Taylor Branson.

JIMMY
Heart’s Bend, Tennessee
17. September 2015
Also wirklich, war das nicht komisch? Zweimal in einer Woche? Welche Wendung wollte Gott seinem Leben denn nun wieder geben?
Jimmy legte den Hörer auf die Gabel und starrte aus dem Fenster über der Spüle. Seine Kapelle. Die er über sechzig Jahre lang dunkel und alleingelassen hatte. Und plötzlich kamen von überall her Leute und wollten einen Blick darauf werfen.
Nachdem die Kapelle weitab vom Schuss die River Road runter lag, hätte er nicht gedacht, dass jemand außer ihm, seinem lieben verstorbenen Dad und dem Landvermesser überhaupt davon wusste.
Aber dann hatte da so ein Bursche vom Architecture Quarterly angerufen, der einen Fotografen hinschicken wollte. Der sagte, sie wollten eine Ausgabe über klassische amerikanische Hochzeitskapellen machen. Jimmy hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie überhaupt auf den Ort gekommen waren.
Als Jimmy nachfragte, sagte der Mann, er wisse das auch nicht. Aber wenn Jimmy tatsächlich eine Hochzeitskapelle im Wald versteckt hätte, würden sie gerne in ihrem Magazin darüber berichten.
„Wir haben gehört, sie soll eine echte Schönheit sein.“
Von wem? Der Immobiliengutachter Arnold Rowland hatte keine Verbindungen zum Architecture Quarterly , da war sich Jimmy ganz sicher.
Das war auf jeden Fall eine sehr mysteriöse Sache.
Und gerade jetzt hatte auch noch ein Immobilienmakler angerufen. Keith Niven sagte, er wolle sich das Gebäude anschauen und hätte sogar einen Käufer an der Hand, falls Jimmy interessiert wäre.
„Ich bin hier draußen auf Ihrem Grundstück, und, also, Junge, Junge, Coach, was machen Sie denn mit diesem Ding?“ Keith hatte laut und durchdringend gepfiffen und Jimmy gegenüber den Eindruck hervorgerufen, er sei von dem Gebäude beeindruckt. Oder war das nur Verkäufergehabe? „Wollen Sie verkaufen?“
„Nein“, war Jimmys spontane Antwort. Aber er hielt sich damit zurück, sagte nichts. Vielleicht war es an der Zeit. Wenn nächste Woche erst einmal der Fotograf von Architecture Quarterly da war, würde er sowieso allerhand Anfragen bekommen. Da konnte er Keith ebenso gut einen Vorsprung lassen.
„Ich fahre raus. Gib mir zehn Minuten.“
„Fantastisch.“
Mit diesem Morast in seinem Kopf fischte Jimmy seine Autoschlüssel aus der Obstschüssel neben der Küchentür und trat hinaus in die Mittagssonne. Der Sommer hatte die Septembertage immer noch fest im Griff, heiß war es.
Aber so war es eben in Tennessee. Er hatte mehr als genug Herbstnachmittage von den sengenden Sonnenstrahlen rösten lassen, während er Footballtrainings leitete und Jungen zu Männern aufgebaut hatte.
Dann legte Gott irgendwann den Schalter um, senkte die Temperaturen, färbte die Bäume mit der Herrlichkeit des Himmels und machte das Leben mit dem perfekten Footballwetter umso schöner.
Er vermisste diese Tage. Ihm fehlte etwas, das seinem Leben Bedeutung verlieh. Aber als er vor neun Jahren vierundsiebzig geworden war, hatte er den Glockenschlag der Zeit gespürt und gewusst, dass es an der Zeit war, die Verantwortung des Footballprogramms an der Rock Mill Highschool einem jüngeren Mann zu überlassen.
Außerdem machte Tom Meyers seine Sache sehr gut. Er hatte zwar noch keinen nationalen Titel gewonnen, aber das war heute auch schwerer als zu Jimmys Zeiten.
Während er zu seinem Auto ging, sprangen seine Gedanken vom Football zur Kapelle, genauer gesagt zu Keiths Vorschlag. Er war ein junger Kerl, dieser Immobilienmakler, und, soweit Jimmy wusste, ein guter Mann. Sein Vater hatte in einer von Jimmys Championship-Mannschaften gespielt.
Jimmy ließ sich hinter dem Steuer nieder, warf den Motor an und zögerte dann mit der Hand auf dem Schaltknauf. Seine alte Kapelle … Die Erinnerungen kamen an die Oberfläche …
Mist, jetzt hatte er doch den Schlüssel zur Kapelle vergessen.
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