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Meine Tante Gaby aus England rief in aller Frühe an. Wir waren alle noch ganz verschlafen, torkelten ins Bad und aufs Klo. Ich hörte, wie meine Mutter immer wieder sagte: »Das ist ja fürchterlich«, »um Gottes willen«, »das kann doch alles nicht wahr sein«.
»Kinder«, sagte sie, nachdem das Telefonat zu Ende war, »vielleicht gibt es Krieg.« Wir waren erschrocken, konnten es uns aber nicht vorstellen. »Die Russen bedrohen die Amerikaner mit Raketen«, sagte sie, bleich im Gesicht, und Heiner sagte nichts, lästerte nicht, also war es ernst. Es war aber mehr spannend als angsterregend.
»Wir müssen jetzt erstmal warten, wie es weitergeht«, sagte meine Mutter, »wenn es schlimmer wird, schicke ich euch zu Gaby.«
Die ganzen nächsten Tage ging es um nichts anderes als die »Kubakrise«58. Alle bibberten mit John F. Kennedy59, in den Sabine verliebt war. Ich wusste nicht, was ich wollen sollte, denn ich war wahnsinnig gern bei Gaby und ihrem Mann Martin in Harwarton, dem englischen Landsitz mit dem parkartigen Garten und den vielen Kindern mit meiner Lieblingscousine Kitty; außerdem müsste ich dann nicht in die Schule – aber Krieg wollte ich auch nicht.
Alle drei Jahre machte Onkel Helmut seine Weltrundreise. Sein letzter Besuch schien mir eine Ewigkeit her. Er begutachtete das neue Haus, war sehr zufrieden und lobte Heiner.
Er hatte mir eine Uhr60 mitgebracht, auf der man, durch Drehen eines gezackten Ringes, der sie umschloss, anzeigen konnte, wieviel Uhr es woanders auf der Welt war. Es war Mittagszeit, wir saßen am oberen Esstisch, während hinter der Durchreiche zu sehen und zu hören war, wie Heiner kochte. Onkel Helmut erklärte mir, wie die Uhr funktionierte: »In Australien ist es jetzt Mitternacht«, sagte er, nachdem er den Ring verstellt hatte, »hier ist Frühling, dort ist Herbst.«
Während ich begeistert an dem Ring herumdrehte, lehnte er sich zurück und setzte hinzu: »Und so wie überall eine andere Zeit herrscht, herrschen auch überall andere Verhältnisse!« Ich sah zu ihm hoch. »Diese Uhr soll dich daran erinnern, dass du in ganz wunderbaren Umständen lebst.« Ich fand es zwar grauenhaft, wie die Alten sich immer stritten, mich nervten meine Stiefschwestern und ich fand es überflüssig, wenn meine Mutter beim Essen immer betonte, wie billig sie es eingekauft hatte, aber wenn Onkel Helmut das sagte, musste etwas dran sein.
»Ich komme viel in der Welt herum«, fuhr Onkel Helmut fort, »das weißt du, und ich sehe viel Elend auf der Welt.« Er beugte sich vor, suchte meinen Blick und sagte eindringlich: »Es gibt unendlich viele arme Menschen auf der Welt, die Hunger haben – du ahnst gar nicht, in was für einem Reichtum du lebst.« Ich kannte das schon seit Kindheitstagen, wenn ich mit der Begründung aufessen sollte, dass in China Kinder hungerten – als ob sie davon satt würden, wenn ich mehr aß, als ich Hunger hatte – aber so, wie Onkel Helmut das sagte, klang das anders. Irgendwie war er traurig, diese Menschen taten ihm leid – und dann taten sie mir auch leid, denn ich mochte ihn sehr gern und ich wusste, dass er recht hatte. »Wir sollten immer versuchen, von unserem Reichtum etwas abzugeben«, sagte er, während Heiner eine dampfende Schüssel in die Durchreiche schob und uns aufforderte, sie auf den Tisch zu stellen. »Wenn wir immer bereit sind, zu teilen, wird es vielleicht mal besser in der Welt.«
Nachmittags besuchte uns eine Frau mit ihrem Freund und ihren beiden Kindern, die ich vorher noch nie gesehen hatte. Unsere Alten hatten sie auf einer Veranstaltung zum Gedenken an die Weiße Rose kennen gelernt, sie war die Tochter eines Mitglieds61 der Widerstandsgruppe »20. Juli«62. Dort hatte sie sich mit meiner Mutter angefreundet, die sie so herzlich einlud, dass sie am Wochenende darauf schon kam. Sie hieß Katharina Heinemann, war sehr witzig und lachte selbst auch gerne. Vor allem aber gab sie Heiner mit seiner ständigen Meckerei und seinen zynischen Bemerkungen derart contra, dass er manchmal nicht mehr wusste, was er sagen sollte; Sabine und ich freuten uns diebisch darüber.
Ihre Tochter war das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte, und ich verliebte mich sofort unsterblich in sie. Ihr Name war Julia, sie war sehr zurückhaltend und wenn ich mit ihr sprach, dachte sie immer lange nach, bevor sie antwortete. Es war sehr schwer, ihr zu imponieren, sie ließ nichts gelten, was ich sagte, relativierte alles oder hatte Einwände. Ihr Bruder David war so alt wie meine Stiefschwestern und wir spielten Verstecken, die Älteren gegen die Jüngeren; so kam es, dass Julia und ich ganz bald im hintersten Winkel des Heizungskellers unauffindbar verschwanden.
Als wir verschwitzt und durstig wieder in den Garten hochkamen, fanden wir Julias Mutter im intensiven Gespräch mit Onkel Helmut. Sie konnte gerade nicht aufhören zu lachen, so wurden wir neugierig und setzten uns dazu. »Ja ja«, sagte Onkel Helmut und nickte nachdenklich lächelnd. »Aber es kommt noch verrückter«, fuhr er fort und Katharina sah ihn gespannt an, »in den ersten sechs Monaten war ich im Auffanglager für Einwanderer in einer speziellen Abteilung für deutsche jüdische Flüchtlinge. Wir wurden besonders genau kontrolliert, ob wir wirklich Juden waren und nicht Spione.«
Katharina lachte und schüttelte den Kopf: »Dabei waren die Nazis viel zu primitiv und verbohrt, um einen Spion als Juden auszugeben, das wäre gegen ihre rassische Arroganz gegangen!«
Nun lachte Onkel Helmut und nickte. »Aber in Sachen ›rassische Arroganz‹ kommt es noch viel besser«, versetzte er. »Als es im ganzen Lager Aufrufe gab, Blut für die australischen Soldaten zu spenden, die im Krieg gegen Deutschland verletzt worden waren, meldete ich mich natürlich sofort.« Schon wieder hielt er inne und nickte. »Aber als ich bei Aufnahme der Personalien angab, aus Deutschland geflohen zu sein, unterbrach der Wachsoldat seine Notizen. ›Sind Sie also Deutscher?‹, fragte er. ›Ich bin deutscher Jude‹, antwortete ich, ›deshalb musste ich ja fliehen.‹ Der Wachsoldat kratzte sich am Kopf und dachte angestrengt nach. ›Hm‹, machte er, ›ich weiß nicht, ob das geht.‹ ›Was geht?‹, fragte ich. ›Dass Sie Blut spenden!‹, antwortete er. ›Warum denn nicht?‹, fragte ich. Er druckste herum. Schließlich sagte er gequält: ›Ja, weil Sie als Deutscher deutsches Blut in Ihren Adern haben – das können wir doch unseren Soldaten nicht zumuten!‹«
Katharina63 Heinemann lachte schallend und schlug sich auf die Schenkel. Julia und ich sahen uns befremdet an – die hatten doch alle miteinander nicht mehr alle Tassen im Schrank.
»Ich musste eine halbe Stunde warten«, beendete Onkel Helmut seine Geschichte, »weil der Wachsoldat erst seine Vorgesetzten fragen wollte – und dann bekam ich von höchster Stelle den Bescheid, dass es undenkbar sei, mein deutsch-verseuchtes Blut64 australischen Soldaten zu geben.«
Jetzt lachten sie beide nicht mehr, sondern sahen schweigend nachdenklich vor sich hin.
Julia65 und ich zogen es vor, wieder wegzugehen und ich fragte sie, ob sie nicht mit mir in mein Zimmer kommen wolle.
Unter dem Eindruck des eben Gehörten wollte freilich keine rechte Stimmung aufkommen.
»Meine Großmutter66«, setzte Julia schließlich an, »erzählt auch manchmal von der Nazizeit.«
»Heiner nie«, sagte ich. »Ich kenn das nur von meinen Verwandten aus England, der Schwester von Onkel Helmut und von ihm natürlich. Die Bücher von Onkel Otto haben sie verbrannt. Und Tante Yella hat mal erzählt, dass die SA bei einer Hausdurchsuchung die Lederrücken von ihren Lexikonbänden mit scharfen Messern aufgeschlitzt haben, das waren ganz teure Bücher, mit Goldschnitt!«
»Bei meinen Großeltern haben sie mal eine Hausdurchsuchung gemacht«, erzählte Julia, »bloß, weil mein Großvater SPD-Abgeordneter gewesen war. Dabei hätten sie das gar nicht machen dürfen, weil Abgeordnete eigentlich immun sind! Und dabei haben sie meiner Großmutter in den Bauch getreten, obwohl sie mit meiner Mutter schwanger war.«
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