In Sichtweite der tausendjährigen Drususbrücke überquere ich die Nahe und gelange so nach Bingen, wo ich direkt am Rhein ein Hotelzimmer bekomme. Da die Geschäfte noch offen haben, beschließe ich, mir bei einem Friseur einen pflegeleichten Kurzhaarschnitt verpassen zu lassen. Als ich bezahle und der jungen Friseurin ein Trinkgeld gebe, bedankt sie sich zu meiner Verblüffung mit einem Knicks. Noch nie hatte eine Frau vor mir einen Knicks gemacht! In gehobener Stimmung verlasse ich das Geschäft und suche mir ein Gasthaus für ein frühes Abendessen.
Ich bin jetzt zwölf Tage unterwegs. Eigentlich kein Grund, darauf besonders hinzuweisen. Wenn es nicht die Zahl Zwölf wäre, denn die kommt im Nibelungenlied so oft vor, dass es kein Zufall sein kann. So sieht es für mich jedenfalls auf den ersten Blick aus.
Fast alle Strecken wurden innerhalb von zwölf Tagen zurückgelegt, sei es die Fahrt nach Island oder der Ritt von Pöchlarn nach Worms durch Rüdiger von Bechelaren. Und jeweils zwölf Recken begleiteten Siegfried und Dietrich von Bern. Also eine versteckte Zahlensymbolik im Nibelungenlied? Bei den zwölf Begleitern lässt sich das sofort verneinen. Man denke nur an die zwölf Apostel, die zwölf Liktoren, welche die römischen Konsuln begleitet haben, oder an Karl den Großen mit seinen zwölf Paladinen.
Mit den Zeitangaben ist es auch einfach, denn die kann man ja überprüfen. Von Pöchlarn nach Worms sind es etwa siebenhundert Kilometer, was bei zwölf Tagen einen Tagesdurchschnitt von 58 Kilometern macht. Das wäre laut Norbert Ohler Reisen im Mittelalter die Tagesleistung eines sehr eiligen Reiters. Könnte man also gelten lassen. Wenn ich das Nibelungenlied richtig verstehe, haben Wärbel und Swemmel sogar die gesamte Strecke von Esztergom bis Worms in zwölf Tagen geschafft – das wären mehr als eintausend Kilometer. Joachim Fernau kommentiert dies in seinem Buch Disteln für Hagen ironisch mit den Worten: »Schade, dass diese Pferderasse ausgestorben ist.«
Fußgänger kommen im Nibelungenlied nicht vor, wenn man von dem Kaplan absieht. Da muss ich schon auf die Sage von Walther und Hildegund zurückgreifen, die von Attilas Hof geflohen und zu Fuß unterwegs waren. Die Gegend um Worms erreichten sie nach vierzig Tagen, was einer Tagesleistung von knapp 27 Kilometern entspricht. Das ist sehr stramm aber nicht unmöglich, besonders wenn man von hunnischen Häschern verfolgt wird. Mal sehen, wie lange ich brauchen werde. (Ich kann es an dieser Stelle schon verraten: Ich habe 51 Tage gebraucht, musste aber auch nicht um mein Leben rennen)
Fazit: Im Nibelungenlied scheint sich keine Zahlensymbolik zu verbergen, und ich kann mich an meinem zwölften Wandertag ohne schwerwiegende Gedanken zur Ruhe begeben.
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