Da Andernach im Neuwieder Becken liegt,habe ich vorerst mit keinen großen Steigungen mehr zu rechnen. Gleichbleibend schlecht ist aber die Markierung des Rheinhöhenwegs, die ich im Ort Miesenheim verliere. Deshalb verlasse ich mich auf mein Navi, dessen gespeicherte topografische Karte (angeblich die aktuellste Version von Deutschland) mich zu einem Weg führt, den es nicht (mehr) gibt. Ich gehe deshalb nur noch nach Kompass und gelange letztlich wieder auf den markierten Weg. Schon bald sehe ich das Kernkraftwerk Mühlheim-Kärlich, genauer gesagt dessen Kühlturm. Dieses 1986 in Betrieb genommene Kernkraftwerk wurde nach nur zwei Jahren auf richterlichen Beschluss hin still gelegt, weil es in einem Erdbebengebiet liegt. Auf dieses Erdbeben wartet man inzwischen seit über zwanzig Jahren – dafür wurden etwa vier Milliarden Euro in den Sand gesetzt.
Dass im Neuwieder Becken Erdbeben nicht unwahrscheinlich sind, zeigt der latente Vulkanismus in dieser Gegend. Zeugen dafür sind die bekannten, meist nach Schwefel riechenden Mineralwasserquellen, die stets aus dem Laacher See aufsteigenden Gasblasen und natürlich der Geysir von Andernach. Mich wundert nur, dass die Bevölkerung hier in Häusern lebt und arbeitet, die in meinen Augen nicht unbedingt erdbebensicher sind. Gelten etwa für die eigene Sicherheit andere Maßstäbe als bei Kernkraftwerken?
In wenigen Jahren soll das Kraftwerk vollständig rückgebaut sein und dann wird der dominante Kühlturm Geschichte sein. Nicht aber die Erdbebengefahr.
Das Höhenplateau ist Ort ausgedehnter Obstplantagen, allerdings habe ich nicht damit gerechnet, hier eine Holunderplantage zu sehen. Eine Bäuerin, die gerade vorbei fährt, sagt mir, dass das hier die größte Holunderplantage sei. Der Holunderstrauch oder -baum gehört zu den häufigsten Straucharten in Europa und deshalb bin ich bislang davon ausgegangen, dass seine Produkte von Wildpflanzen stammen. Er ist äußerst vielfältig als Nahrungsmittel zu verwenden. Das fängt schon mit den Blüten an, aus denen Küchlein gebacken werden können oder die man zu Sirup oder Holunder»Sekt« verarbeiten kann. Auch gibt es leckeren Holunderlikör aus Blüten, und die Früchte werden zu Marmelade oder Getränken verarbeitet. Nur roh essen sollte man sie nicht. Auf alten, absterbenden Holunderbäumen wachsen schließlich essbare Pilze, die Judasohren. Das sind violett gefärbte, an abgeschnittene Ohren erinnernde muschelförmige Pilze, die eigentlich keinen Eigengeschmack haben. Trocknet man sie, dann schrumpfen sie auf einen Bruchteil der ursprünglichen Größe. Ich mische getrocknete Judasohren, die sich in einem geschlossenen Behältnis lange halten, gerne Suppen oder Soßen bei, in denen sie sich mit der Brühe vollsaugen und so wieder zur ursprünglichen Größe anschwellen. Sie haben dann den Geschmack der Brühe angenommen und verleihen dem Gericht optisch eine chinesische Note.
Da ich keine Lust habe, durch die Industriegebiete vor Koblenz zu wandern, fahre ich von Mühlheim-Kärlich mit dem Bus zum Koblenzer Hauptbahnhof und lasse mir in der Tourist Information ein Hotelzimmer besorgen. Ich habe die Wahl zwischen einem Hotel ganz in der Nähe oder etwa zweieinhalb Kilometer entfernt beim Deutschen Eck. Da ich heute nicht weit gegangen bin, entscheide ich mich für letzteres und ziehe los. Auf halbem Weg stoße ich auf das bekannte »Weindorf Koblenz«, ein großes Gaststättenareal, in das ich zunächst einkehre. Da erst früher Nachmittag ist, gönne ich mir nur einen kleinen Imbiss zu einem Glas Riesling. Vor dem Weitermarsch zum Hotel probiere ich dann, gewissermaßen als Nachtisch, einen Riesling-Perlwein, einen Secco Antonio. Er beflügelt meine letzten Schritte zum Hotel.
Von dort aus gehe ich zum nahe gelegenen Deutschen Eck, dem deutschesten aller deutschen Ecke. Es wird überragt vom Denkmal von Kaiser Wilhelm I. Ich hatte fast während meines gesamten Berufslebens regelmäßig in Koblenz zu tun und hatte anfangs selbstverständlich auch das Deutsche Eck besucht. Später natürlich nicht mehr. Deshalb war es mit völlig entgangen, dass das nach 1945 wegen seiner Kriegsschäden abgebaute Denkmal 1993 nach einer privaten Schenkung wieder hergestellt werden konnte. Hoch zu Ross sitzt da der Kaiser in Begleitung eines Siegesengels. In Erinnerung an den Krieg 1870/71 war das verständlich, auch wenn nicht der Kaiser sondern die Soldaten den Krieg ausgefochten haben.
Ich verlasse Koblenzmit dem Taxi, das mich bis zum sogenannten Rittersturz bringt, einem Aussichtspunkt südlich von Koblenz. So vermeide ich einen öden Marsch durch die Stadt und erspare mir gleichzeitig einen Aufstieg.
Der Aussichtspunkt Rittersturz hat seinen Namen von einer Legende, nach der sich ein Ritter aus Liebeskummer von dem Felsen hinabgestürzt haben soll. Was war nur mit den rheinischen Rittern los? Erst erhängt sich einer im Rolandsbogen und jetzt stürzt sich ein anderer von einem Felsen!
Am Rittersturz beginnt wieder der markierte Rheinhöhenweg, diesmal mit gut sichtbarer, neuer Markierung. Diese Markierung weist aber in eine andere Richtung, als auf der Karte verzeichnet, und so folge ich lieber dem bisherigen Weg. Dort wurde zwar das Markierungs-»R« von den Baumstämmen geschabt, zurück blieb aber ein gut sichtbares »R« in der Rinde. Hier im Koblenzer Stadtwald verläuft auch eine Römerstraße, auf die ich irgendwann stoße und auf der ich entlang gehe. Aus ihr ist inzwischen eine asphaltierte Landstraße geworden. Einmal treffe ich auf eine größere Ausflugsgruppe, die nicht so recht weiß, welches der richtige Weg sei. Einige sind ziemlich skeptisch, als ich mithilfe des Navis den Weg vorgebe, aber dann folgen sie mir doch und gelangen mit mir zu den Resten eines römischen Tempels, welcher Rosmerta und Merkur geweiht war. Danach erreiche ich die offene Hügellandschaft, sehe in der Ferne die berühmte Marksburg und wandere zwischen blühenden Rapsfeldern und durch Buchen- und Eichenwälder, die mich immer wieder begeistern. Es muss hier offenbar einen Künstler geben, der aus Baumstämmen Skulpturen schnitzt, die am Wegesrand stehen. Besonders gut gefällt mir eine aus einem liegenden Baumstamm herausgearbeitete, liegende Frau, die ein Buch liest. Nach weiteren romantischen Ausblicken auf Täler und Höhen komme ich zum vielgepriesenen Vierseenblick, wo man allerdings keine Seen sieht, sondern eine Rheinschleife. Der Blick hinab ist dabei mehrfach unterbrochen, so dass man den Eindruck haben könnte, vier Seen zu sehen. Das ist eher ein Touristengag und hat vielleicht damit zu tun, dass es hier ein Ausflugslokal gibt, welches etwas Besonderes bieten will. Ich mache Pause bei Kaffee und Kuchen und wenig später kann ich am Gedeonseck die Rheinschleife bei Boppard ohne störende Unterbrechungen sehen, was mir viel besser gefällt. Und ich sehe ein Schild »Sessellift 200 m«. Die Existenz dieses Sesselliftes hat mir der Rheinhöhenweg-Wanderführer verschwiegen. Deshalb ist meine Freude umso größer und statt den Serpentinenweg nach Boppard hinunterzustolpern, schwebe ich auf einem Sessel zu Tal. Ich quartiere mich in einem Weinhaus ein, welches vorzügliche Rieslingweine aus eigenen Steillagen hat. Mir haben es die trockenen Spätlesen dieses Winzers angetan. Da ich heute recht wenig gelaufen bin, bleibt mir genügend Zeit und Energie in Boppard die gut erhaltenen Reste des römischen Kastells Boudobrica anzuschauen.
Abends mache ich mir Gedanken über die weitere Route für die kommenden drei Tage. Von Boppard nach Oberwesel sind es laut Wanderführer fast dreißig Kilometer, und dann folgt eine Etappe, die nach 22 Kilometern im Wald ohne Übernachtungsmöglichkeit und ohne öffentliche Verkehrsmittel endet. Die darauffolgende Etappe beginnt dann wieder an derselben Stelle. Keine realistische Wegführung! Ich brüte deshalb eine neue Route aus: Von Boppard mit der Bahn nach Oberwesel und von dort abweichend vom Rheinhöhenweg tiefer in den Hunsrück hinein, wo es eine Übernachtungsmöglichkeit geben soll. Anschließend Richtung Bingen, wobei ich zwischendurch wieder auf den Rheinhöhenweg stoßen müsste. Die Grundlagen meiner Routenplanung sind die Generalkarte 1 : 200 000, die im Navi gespeicherte topografische Karte 1 : 25 000 von Deutschland, der Wanderführer Rheinhöhenweg und mein Logbuch. Das Logbuch habe ich vor Antritt der Reise geschrieben. In einem A5-Heft habe ich die wesentlichen Orte notiert, durch die ich auf der Wanderung kommen müsste und was ich mir dort anschauen sollte. Außerdem habe ich Hinweise auf Hotels und Pensionen eingetragen, allerdings ohne Anschrift oder Telefonnummer, denn das passt nicht zum Charakter einer solchen Tour. Ein wenig Abenteuer sollte schon noch dabei sein, und wenn es nur die Suche nach einer Unterkunft ist. Das Logbuch schreibe ich jetzt täglich als Tagebuch weiter.
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