Dies war das erste Mal, dass er Kevin die Stirn bot.
»Das war keine Frage, Kleiner«, blaffte Kevin sein Gegenüber an, und kam noch einen Schritt näher, so dass sein Gesicht direkt vor Lukes war.
Eingeschüchtert wollte Luke einen Schritt zurück weichen, prallte dabei aber gegen Mike, der sich unbemerkt hinter ihn gestellt hatte, um ihm den Fluchtweg zu verbauen.
»Du wirst tun, was wir dir sagen«, fuhr Kevin drohend fort.
»Nein, ich bin da raus«, japste Luke.
Er starrte Kevin mit angstgeweiteten Augen an.
Kevin musste Mike wohl ein für Luke unsichtbares Zeichen gegeben haben, denn plötzlich packte Mike Luke und drehte ihm die Arme auf den Rücken. Luke stöhnte vor Schmerz auf.
Kevin ballte seine rechte Hand zur Faust und hielt sie Luke vor das Gesicht.
»Ich lasse mich von dir nicht verarschen, Kleiner«, zischte er.
Luke konnte nicht mehr antworten. Sein Mund war zu trocken und obwohl sein Hirn fieberhaft arbeitete fiel ihm nichts ein, was er dem Bandenchef noch hätte sagen können, um aus dieser Situation wieder heraus zu kommen.
»Mr. Williams sagte nein «, ertönte plötzlich eine Stimme zu ihrer Linken.
Die Gruppe der Jugendlichen wirbelte überrascht herum. Vor ihnen stand ein uniformierter Mann, doch es war kein Polizist. Luke erkannte die Kleidung des Mannes sofort, er trug die Uniform eines Supervisors von Onkel Charly.
Ein Glücksgefühl breitete sich in ihm aus, wie er es noch nie verspürt hatte. Er war gerettet.
»Halten Sie sich da raus, Mann«, blaffte Kevin den Uniformierten an.
»Sie werden Mr. Williams augenblicklich loslassen«, fuhr der Mann ruhig fort.
Kevin lachte laut auf.
»Warum sollte ich?«, konterte Kevin.
Der Uniformierte blickte sich kurz um und die sechs Jungen folgten seinem Blick. An der nächsten Straßenecke, etwa zehn Meter von ihnen entfernt, standen sieben weitere Männer.
Mike lockerte seinen Griff und Luke eilte zu seinem Retter.
Dieser nickte Luke zu, dann wandte er sich wieder an die Gangmitglieder.
»Ich gehe davon aus, dass Sie Mr. Williams nicht mehr belästigen werden«, sagte er warnend.
Leise fluchend packte Kevin sein Bike. Er startete den Elektromotor und raste davon. Seine Anhänger folgten ihm augenblicklich.
»Danke«, sagte Luke zu dem Supervisor, als die ‚Bike Bandidos‘ verschwunden waren.
Er wollte dem Supervisor so viel mehr sagen, doch er konnte die Erleichterung, die er verspürte, nicht in Worte fassen. Sein Kopf schien vollkommen leer.
»Ihr Onkel hatte erwartet, dass diese Rocker Ihnen noch einmal Ärger machen würden«, antwortete der Supervisor.
»Dann richten Sie bitte auch Onkel Charly meinen Dank aus.«
»Selbstverständlich«, antwortete der Supervisor.
Er wandte sich ab und verschwand mit seiner Verstärkung so schnell, wie er gekommen war.
Als Luke am Nachmittag nach Hause kam, zitterten ihm noch immer die Knie. Er hatte die fünf Biker für seine Freunde gehalten, doch sie hatten ihn nur ausgenutzt. Er konnte nur inständig hoffen, dass die Warnung des Supervisors sie tatsächlich beeindruckt hatte. Luke betrat das Wohnzimmer und stutzte. Auf dem Sofa saß sein Vater.
»Was machst du hier? Hast du heute Urlaub?«, fragte Luke überrascht.
Albert seufzte, stand auf und ging zu seinem Sohn.
»Sie haben mich gefeuert«, antwortete Albert.
»Was?«, fragte Luke. »Warum?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe versucht mit dem Boss zu sprechen, aber seine Sekretärin ließ mich nicht durch. Heute Morgen, als ich kam, war bereits eine Mitteilung in meiner Mailbox, dass ich das Gebäude innerhalb einer Stunde zu verlassen habe.«
Luke starrte seinen Vater entgeistert an.
»Aber das können die doch nicht so einfach machen«, ereiferte er sich.
»Natürlich können sie«, seufzte Albert.
»Aber das ist nicht fair, du arbeitest seit zwanzig Jahren in dieser Firma und hast dir nie etwas zu Schulden kommen lassen«, sagte Luke.
»Was ist in der heutigen Zeit schon noch fair?«, entgegnete Albert.
Er ging zurück zum Sofa und ließ sich in die schäbigen Polster fallen.
»Wir werden nun erst mal den Gürtel ein wenig enger schnallen müssen«, fuhr er fort.
»Noch enger?«, murmelte Luke mehr zu sich selbst als zu seinem Vater.
Sein Vater blickte ihn finster an.
»Du weißt, ich habe immer alles getan, damit es uns an nichts fehlt.«
»Ja, natürlich, entschuldige«, sagte Luke und senkte beschämt den Kopf. »Aber könntest du nicht Onkel Charly fragen, er würde uns bestimmt helfen.«
»Nein, niemals«, unterbrach Albert seinen Sohn heftig. »An seinem Geld klebt das Blut von unzähligen Sergia, ich werde keinen Cent von ihm annehmen.«
Luke starrte sein Gegenüber bestürzt an. Im Gegensatz zu seinem Vater war es ihm egal, wie sein geliebter Onkel seinen Lebensunterhalt verdiente.
»Wir werden das schon schaffen«, sagte Albert, und zwang sich zu einem Lächeln. »Du wirst sehen, ich habe im Handumdrehen einen neuen Job. Und wenn alle Stricke reißen nehmen wir einen zusätzlichen Kredit auf.«
»Glaubst du denn, dass die Bank dir noch einen zweiten Kredit gewährt?«, fragte Luke.
»Lass das mal meine Sorge sein«, sagte Albert ausweichend.
»Aber was, wenn du keinen neuen Job findest? Und dann die Schulden nicht mehr bezahlen kannst?«
Luke machte eine kurze Pause, bevor er leiser weiter sprach.
»Was, wenn sie dich am Ende abholen?«
»Luke, mach dir bitte keine Sorgen.«, versuchte Albert seinen Sohn zu beruhigen.
»Vielleicht könnte ich einen Nebenjob annehmen«, überlegte Luke laut.
»Nein«, sagte Albert bestimmt. »Ich möchte, dass du dich voll auf die Schule konzentrierst.«
»Wie du meinst«, sagte Luke.
Er war davon überzeugt, dass seine schulischen Leistungen nicht darunter leiden würden, wenn er ein paar Stunden in der Woche jobben würde. Aber er wollte sich nicht schon wieder mit seinem Vater streiten. Die letzten Spannungen waren einfach noch nicht lange genug her, um neue Meinungsverschiedenheiten zu provozieren.
Es war später Vormittag. Albert lag auf seinem abgewetzten Sofa, und starrte an die Zimmerdecke. Es war nun acht Wochen her, seit er seinen Job verloren hatte, und die Aussichten auf eine neue Anstellung waren sehr trübe. Er hatte unzählige Bewerbungen geschrieben und genauso viele Absagen erhalten.
Er grübelte darüber nach, wie es weiter gehen sollte, denn das Geld war nun mehr als knapp und er wusste noch nicht einmal, wie er die nächste Rate für seine Kredite aufbringen sollte.
In diesem Moment klopfte es. Albert fuhr erschrocken hoch und blickte verstört zur Tür. Wer in Gottes Namen kam ihn mitten am Tag besuchen? Niemand außer Luke wusste, dass er arbeitslos und somit tagsüber zu Hause war.
Es klopfte erneut, dieses Mal energischer.
Albert erhob sich schwerfällig, schlurfte zur Tür und öffnete.
Vor ihm stand sein Schwager, flankiert von zwei seiner uniformierten Supervisoren. Albert starrte die drei Männer verblüfft an.
»Charly«, sagte er, »ich hatte dich nicht erwartet.«
»Ich bin geschäftlich hier«, antwortete Charles.
Er stand wie versteinert in der Tür, kein Muskel regte sich in seinem Gesicht.
Albert starrte ihn einen Moment verständnislos an, dann weiteten sich seine Augen angstvoll.
»Charly, nein!«, keuchte er.
»Geh zur Seite, Albert«, befahl Charles.
Auf den ersten Blick schien er gänzlich unbeeindruckt von der Angst seines Gegenübers und starrte seinen Schwager an, als wäre er ein Fremder. Doch seine Hände hatte er zu Fäusten geballt.
»Charly, NEIN!!!«, stieß Albert hervor.
»Ist er da?«, fragte Charles.
»In seinem Zimmer«, antwortete Albert mit zitternder Stimme.
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