Mira hatte gewusst, dass sie unter der ständigen Überwachung und dem Schutz ihrer Eltern aufgewachsen war. Aber die Erwähnung des Westturms hatte ihr verdeutlicht, wie behütet sie wirklich lebte. Sie hatte das sichere Innenstadtviertel noch nie verlassen und war deshalb niemals auch nur in die Nähe des Westturms am Stadtrand gekommen. Er lag zwischen den Randvierteln und den Feldern. Niemals hätten ihre Eltern sie einen Fuß in eine solche Gegend setzen lassen.
Ihre Mutter, die schon eine Weile dabei zugesehen hatte, wie Mira ihr Brot auf dem Teller hin und her schob, runzelte die Stirn. „Iss endlich dein Schinkenbrot, Miriam. Du bist schon ganz schmal.“
„Zu welchem Zweck?“, fragte Miras Vater.
„Weil es ungesund ist, sich nicht ausgewogen und ausreichend zu ernähren!“, rief ihre Mutter, die Mira immer noch musterte, als könne sie jeden Moment aufgrund von Mangelernährung ohnmächtig oder tot vom Stuhl kippen.
„Meine Güte, Rose!“ Gerald Robins schüttelte unwillig den Kopf und nahm sich noch eine Scheibe Schinken. „Zu welchem Zweck das Verbot erlassen wurde.“
Mira antwortete lieber, als zu essen. Sie hatte beim Gedanken an Mittwochabend einen dicken Kloß im Hals und befürchtete, keinen Bissen hinunterzubekommen.
„Kleinstgruppen sind Minderheiten, deren Einstellungen nicht mit den Grundfesten unseres Staates einhergehen“, antwortete sie, als hätte sie das Staatsgeschichtsbuch verschluckt. „Gibt man solchen Gruppen die Gelegenheit, sich im Privaten zu treffen, ist das Risiko eines Aufstandes groß.“
„Was sind die Merkmale solcher Gruppen?“, fragte Gerald Robins weiter, was bedeutete, dass er mit Miras Antwort zufrieden war. Wenn er nicht nachhakte, war das meist ein Zeichen seiner Zustimmung.
„Kritik an Staat und König, regelmäßige Zusammenkünfte“, zählte Mira auf.
„Das Schinkenbrot“, erinnerte ihre Mutter und lehnte sich zurück, damit Iliona ihr Glas mit mehr trübem Apfelsaft füllen konnte.
„Unsinn, Rose! Was hat denn nun das Schinkenbrot damit zu tun?“
„Internationalitätsgedanken, Rituale, traditionelles Lied- und Schriftgut“, ratterte Mira weiter herunter. „Aufstellen eigener Anführer und Verehren anderer Autoritäten als dem König. Warum ist es eigentlich verboten, in die Außenviertel zu gehen?“, fragte sie dann, ohne Atem zu holen, möglichst beiläufig.
Iliona hielt beim Nachschenken inne, und ihr Vater ließ sein Schinkenbrot sinken. „Hat das etwas mit Staatsgeschichte zu tun?“, fragte er misstrauisch.
„Nein“, gab Mira zu. „Mir ist nur aufgefallen, dass ich noch nie dort draußen war.“
„Über welch unnütze Dinge du dir Gedanken machst, Miriam. Wozu solltest du dich denn dort draußen herumtreiben wollen?“ Er hob sein Schinkenbrot wieder an, als wäre die Sache damit erledigt.
„Es gibt sogar eine Mauer. Und Wachposten, die verhindern, dass jemand sich nach dort draußen verirrt“, beharrte Mira.
„Die Mauer“, sagte ihr Vater und fixierte Mira über den Tisch hinweg mit einem durchdringenden Blick, „ist in erster Linie dazu da, die Außenstädter davon abzuhalten, in die Innenstadt zu kommen, und nicht umgekehrt.“ Sein Blick wanderte zu Iliona, die das Glas hastig bis zum Rand füllte und sich dann wieder hinter die Anrichte zurückzog.
„Iliona kommt aus den Außenvierteln!“, stellte Mira fest, und das Mädchen zuckte beim Klang ihres eigenen Namens ertappt zusammen.
„Iliona arbeitet in der Innenstadt“, entgegnete ihr Vater. „Sie hat einen Passierschein.“
„Und den braucht man nur, wenn man von draußen hineinwill?“ Mira nahm den ersten richtigen Bissen von ihrem Schinkenbrot, um der Frage damit etwas Beiläufiges zu geben.
Ihr Vater seufzte. „Den brauchen nur die Außenstädter. Die Innenstädter haben überhaupt keinen Grund, nach dort draußen zu gehen.“
„Es ist ja auch viel zu gefährlich“, schaltete sich Miras Mutter ein.
„Muss man sein Ausweisband scannen, wenn man hinausgeht?“, fragte Mira, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie durfte sich nicht anmerken lassen, wie viel von der Antwort auf diese Frage abhing. Wenn sie ihre Identifikationsnummer brauchte, um das Stadttor zu passieren, konnte sie ihrem Vater ebenso gut gleich Bericht erstatten, wohin sie ging. Alle Daten wurden gesammelt – wer wann wie viele Rationskarten erhielt, gegen Lebensmittel oder Kleidung eintauschte, zur Arbeit oder zur Schule ging oder sich etwas zuschulden kommen ließ. Ihr Code würde eine nur allzu leicht verfolgbare Spur hinterlassen.
„Nein“, sagte ihr Vater jedoch. „Was für eine Verschwendung wertvoller Technik. Die Innenstädter gehen nicht nach dort draußen. Sie haben in den Außenvierteln nichts zu suchen, und kein Wachmann, der noch ganz bei Verstand ist, würde jemanden ohne einen sehr guten Grund passieren lassen.“
Unwillkürlich huschte Miras Blick zu Iliona, die den Lappen so fest umklammerte, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Dabei wagte sie nicht ein einziges Mal, den Blick zu heben. Vielleicht, weil sie nicht wollte, dass jemand die zornigen Tränen sah, die sich bei Gerald Robins abfälligen Worten in ihren Augen angesammelt hatten.
Mira versuchte mühsam, das Stückchen Brot, auf dem sie seit geraumer Zeit herumkaute, hinunterzuschlucken. Es kratzte in ihrer trocken gewordenen Kehle. Sie hustete und hätte am liebsten gefragt, was mit den Menschen in den Armenvierteln so verkehrt war. Immerhin war auch Miras Familie nicht sonderlich reich. Niemand war das. Sie alle waren auf die Rationen angewiesen, die ihnen vom Staat zugeteilt wurden. Und Miras Familie beschäftigte doch selbst jemanden aus den Außenvierteln.
Aber solche Fragen konnte Mira nicht stellen. Auch dann nicht, als sie den Bissen endlich hinuntergeschluckt hatte und wieder genug Luft bekam. Wenn sie ihrem Vorhaben für Mittwochabend keine Steine in den Weg legen wollte, war es sicher nicht klug, weiterhin so reges Interesse an den Armenvierteln zu äußern.
Am Dienstagmorgen im Unterricht studierte Mira ihr Staatswirtschaftsbuch besonders genau. Im hinteren Teil des Buches waren verschiedene Landkarten und Stadtpläne abgedruckt, darunter auch einer ihrer Heimatstadt Leonardsburg. Mira war weiterhin wild entschlossen, morgen Abend um sechs Uhr zum Westturm zu gehen, was auch immer sie dort erwartete. Was ihr noch fehlte, war ein handfester Plan, wie sie unbemerkt an den Wachposten vorbeikommen sollte, die an den Stadttoren stationiert waren.
„Wir sind auf Seite 93“, raunte Vera ihr zu, die sie aus dem Augenwinkel beobachtete. Sie hatte mit keinem Wort nach ihrem gestrigen Besuch in „Porters Höhle“ gefragt, und so hatte Mira Mittwochabend und den Westturm auch mit keinem Wort erwähnt. Je weniger Leute davon wussten, desto besser. Außerdem war es Veras eigene Schuld; sie hatte sich entschlossen, nicht mitzukommen.
„Ich weiß“, flüsterte Mira zurück und studierte weiter den Stadtplan. Die Innenstadt von Leonardsburg war ein ovaler Kern, der vor allem im Norden und Westen von einem breiten Band aus Randvierteln gesäumt war. Dahinter kamen nur noch Felder und dann brachliegendes Land.
„Ich meine nur“, wisperte Vera hinter vorgehaltener Hand, „weil du auf Seite 148 bist. Aber wir sind auf Seite –“
„Sie halten es nicht für nötig, meinem Unterricht zu folgen – nicht wahr, Frau Petersen?“
Vera sank beim Klang von Professor Winkelbauers Stimme in sich zusammen.
„Sie beherrschen Staatswirtschaft bereits aus dem Effeff. Ist dem nicht so?“, fragte Winkelbauer boshaft. „Weshalb Sie mir gewiss auch sagen können, welche Güter man jahrhundertelang unnütz importiert hat, obwohl man sie problemlos ersetzen oder hier anbauen kann.“ Er wandte sich zur Tafel um und schrieb: „Unnütze Importe.“
Vera schluckte vernehmlich. „Ja“, brachte sie dann heraus und starrte Winkelbauers knochigen Rücken an, den er ihnen beim Schreiben zuwandte. „Ähm … das Erdöl und …“ Sie sah Hilfe suchend zu Mira.
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