Während sie mit den Fingerkuppen an den Buchrücken entlangstrich und nur recht selten ein Exemplar aus den Reihen zog, spürte sie, wie Edmund Porter sie beobachtete. Sie las nicht einmal die Titel, sondern lauschte auf die Geräusche im Laden. Edmund Porter notierte mit kratzendem Stift etwas auf Papier, der Wachmann studierte völlig geräuschlos Buchrücken, und einer der beiden Jungen tippelte mit den Füßen auf dem abgewetzten Holzboden. „Können wir jetzt gehen?“
Mira sah vorsichtig über ihre Schulter. Wenn die beiden Jungen gingen, wäre sie alleine mit Edmund Porter und dem steifen Wachmann. Doch sie bezweifelte, dass er den Laden zeitnah verlassen würde, auch wenn sein Interesse sich sichtlich in Grenzen zu halten schien. Er studierte die staubigen Buchrücken mit einer Mischung aus Neugier und Ekel.
„Pscht, Theodore.“ Der ältere Junge blätterte mit seiner dunklen Hand die blassen Buchseiten um. Das Rascheln des Papiers war für einen Moment das einzige Geräusch, dann drohte der kleinere Junge ungeduldig: „Dann geh ich alleine.“
Mira ließ sich in die Hocke sinken und zog ein großes, schweres Buch mit einem eingeprägten Elefanten auf dem Einband heraus. Sie konnte es ebenso gut aufschlagen und vorgeben, zu lesen.
„Die schimpfen, wenn du mich alleine gehen lässt“, erklärte der Junge vernehmlich.
„Dich, nicht mich“, gab sein großer Bruder zurück, aber Mira konnte hören, wie er das sperrige Buch zuschlug. Über die Seiten des Elefantenbuches hinweg sah sie zu, wie er es ins Regal zurückstellte und stattdessen scheinbar wahllos ein handlicheres Büchlein herauszog. Er brachte es geradewegs zu Edmund Porter an den Tresen.
„Ah“, sagte dieser lächelnd. „Eine gute Wahl. Ihr entschuldigt mich einen Moment.“ Er schob seine runde Brille zurecht. „Ihr wisst, die Listen … nichts geht hier ohne Listen.“ Er verschwand mit dem Buch im Hinterzimmer. Theodore, der jüngere der beiden Brüder, vergaß ganz sein ungeduldiges Auf-und-ab-Wippen. Er starrte Edmund Porter nach, bis Nathaniel ihn mit dem Ellbogen anstieß und er seine Aufmerksamkeit wieder den Regalen um sich herum zuwandte. Als er bemerkte, dass Mira sie beobachtete, zuckte er zusammen, entblößte dann aber hastig seine blitzweißen Zähne zu einem Grinsen.
Schnell senkte Mira ihren Blick wieder auf ihr Buch. Hinter ihr ging der Wachmann quer durch den Raum und betrachtete jetzt ein anderes Regal eingehend.
„Hier, bitte schön.“ Edmund Porter war zurückgekehrt und reichte Nathaniel und Theodore ihr Buch. „Ich wünsche viel Freude damit.“
„Danke.“ Der Kleinere schnappte sich das Buch, und seinem älteren Bruder blieb nichts anderes übrig, als Edmund schnell eine kleine, ausgestanzte Rationskarte auf den Tresen zu werfen und dem Jüngeren hinterherzueilen. Das Glöckchen bimmelte, und Mira sah den beiden durch die Glastür nach. Nathaniel hatte seinen Bruder eingeholt, nahm ihm das Buch ab und begann mit ziemlich ärgerlicher Miene auf ihn einzureden. Mira beobachtete ihren verbalen Schlagabtausch, bis sie außer Sichtweite waren.
Edmund Porter nahm die Rationskarte und steckte sie in seine Tasche. Er hatte sie nicht einmal angesehen, um etwa zu überprüfen, ob sie eine angemessene Bezahlung für ein geliehenes Buch war. Vielleicht gehörten die beiden Jungen genau wie Mira zu Edmunds Stammkunden und genossen eine gewisse Sonderbehandlung. Vielleicht war Edmund Porter aber auch einfach insgesamt nachlässig mit dem Entgegennehmen seines Lohns. Mira hatte oft gesehen, wie er im Tausch für ein Buch Verbrauchswaren statt Rationskarten angenommen hatte; Butter und Eier etwa oder den süßen Tabak, den er regelmäßig in seiner Pfeife rauchte. Auch besaß er nicht einmal einen der kleinen, silbernen Scanner, unter die man in jedem anderen Geschäft, das Mira kannte, sein Armband mit der neunstelligen Identifikationsnummer halten musste. Für jeden anderen Handel musste sie sich auf diese Art ausweisen, selbst wenn sie nur einen halben Laib Brot kaufen wollte.
„Nun?“ Sie zuckte zusammen, als Edmund Porters warme Bassstimme plötzlich dicht neben ihr erklang. „Du bist auch fündig geworden?“
„Ähm …“ Mira sah auf das Elefantenbuch hinunter. Sie hatte noch keinen vollständigen Satz gelesen. Vorsichtig hielt sie über die Schulter nach dem Uniformträger Ausschau. Er stand nahe genug, um jedes Wort zu hören, das sie mit Edmund wechselte.
Ohne jedoch eine Antwort abzuwarten, riss Edmund Porter ihr das Buch aus den Händen. „Ich trage es für dich ein“, erklärte er freundlich.
Ein leichter Anflug von Ärger breitete sich in Mira aus. Sie hatte den ganzen Tag darauf gewartet, hierherzukommen. Und jetzt komplementierte Edmund Porter sie einfach so wieder hinaus. Dabei hätte er sich denken können, dass ein Wachmann hier sein würde. Sie hatten ein sehr aufmerksames Auge auf die Buchhandlung und die Menschen, die hierherkamen. Er hätte wissen müssen, dass er Mira hier keine Informationen würde geben können.
Frustriert wartete sie auf seine Rückkehr und nahm ohne große Begeisterung das Buch mit dem Elefanten entgegen. Sie vergaß sogar ganz, Edmund dafür die Brotrationskarte zu überreichen, die sie mitgebracht hatte. Brotrationen gab ihr Vater nur selten und sehr ungern her. Meist bezahlte Mira Edmund mit den Sonderrationen, die Gerald Robins ihr ohne große Nachfragen überließ, und die waren so wertvoll, dass sie danach für eine ganze Weile nichts mehr mitzubringen brauchte.
„Ich möchte wetten“, lächelte Edmund Porter, als hätte er ihre missmutige Miene gar nicht bemerkt, „dass wir uns spätestens übermorgen wiedersehen.“
Mira sah von dem Elefanten zu Edmund Porter, der ihr für den Bruchteil einer Sekunde verschwörerisch zublinzelte. Dann wandte er sich dem Wachmann zu, der immer noch die Regale inspizierte: „Und kann ich Ihnen vielleicht auch behilflich sein?“
„Danke“, erwiderte der Mann so steif, wie er sich bewegte. „Ich sehe mich nur um.“ Natürlich tat er das. Allerdings gewiss nicht, um sich ein Buch zu leihen. Er war einzig und allein hierher beordert worden, um einen Laden, in dem mit so fragwürdiger Ware wie Büchern gehandelt wurde, im Auge zu behalten.
„Aber vielleicht kann ich Ihnen etwas empfehlen.“ Edmund Porter nickte Mira zu und ließ sie stehen. „Manchen dieser Bücher sieht man gar nicht an, was in ihnen steckt, ehe man sie nicht geöffnet hat.“
Obwohl er sie bei diesen Worten keines Blickes würdigte, fühlte Mira Aufregung in sich aufsteigen. Mit einem kurzen Blick vergewisserte sie sich, dass der Wachmann beschäftigt war, dann klappte sie den Deckel des schweren Buches in ihren Händen auf. Und tatsächlich: Auf der ersten gelblichen Seite lag ein kleiner, weißer Zettel, auf dem nur eine einzige Zeile notiert war: ein Tag, eine Uhrzeit und ein Ort.
Als sie an diesem Abend mit ihren Eltern zu Abend aß, fiel es Mira schwer, an etwas anderes zu denken als an die handschriftliche Notiz, die sie in ihrem geliehenen Buch gefunden hatte. Das war besonders gefährlich, weil ihre Aufmerksamkeit gefragt war. Ihr Vater fragte sie über den Abendbrottisch hinweg in Staatsgeschichte ab, während ihre Mutter sicherzustellen versuchte, dass Mira genug aß. Im Hintergrund schrubbte Iliona die Anrichte und behielt dabei Teller und Gläser der Familie im Auge, um rechtzeitig Nachschub zu bringen.
„Wem haben wir den Erlass zum Verbot konspirativer Kleinstgruppen zu verdanken?“, fragte Miras Vater zwischen zwei Bissen Schwarzbrot mit dünnen Schinkenscheiben, die ihre Mutter diese Woche von den Fleischrationskarten gekauft hatte.
„Joachim Burkhardt. Burkhardthausen ist nach ihm benannt“, antwortete Mira, konnte ihre Gedanken aber nicht von dem kleinen Zettel losreißen. „Mittwoch, 18 : 00 Uhr, Westturm“, hatte auf dem Papier gestanden, das Edmund Porter in den dicken Wälzer gelegt hatte, der das erste Buch sein würde, das Mira ungelesen zurückbrachte.
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