1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 „Oh, das hatte ich doch nicht vor“, versicherte Edmund Porter ruhig. Vielleicht, überlegte Mira, konnte er sie gar nicht sehen. Vielleicht verbarg der Schatten des Mäuerchens sie auch vor ihm. „Ich bin nur ein neugieriger alter Mann, der nicht schlafen kann und beim Lesen einen Lichtschein in seinem Hof gesehen hat.“
„Das war ich. Sie können wieder hineingehen“, sagte Filip schroff. „Ich habe etwas gehört.“
„Und das wiederum könnte dann wohl ich gewesen sein“, erwiderte Edmund Porter, der keineswegs wieder nach drinnen gegangen war. „Sehen Sie, ich füttere die streunenden Katzen in der Nachbarschaft, und erst eben habe ich ihnen diese Schüssel nach draußen gestellt.“
Der Lichtkegel bewegte sich. Vermutlich leuchtete Filip in die von Edmund Porter gewiesene Richtung, und aufgeschreckt von der Helligkeit, stoben in der Tat zwei oder drei Straßenkatzen davon.
Filip zuckte zurück und richtete den Lichtkegel wieder auf Edmund Porter. „Streuner also.“ Seiner Stimme fehlte jede Herzlichkeit. „Ich schlage vor, dass Sie trotzdem wieder nach drinnen gehen. Und sich den Straßenkatzen in Zukunft besser am Tage erkenntlich zeigen. Sie bringen sich noch in ernste Schwierigkeiten.“
„Verzeihung“, sagte Edmund Porter, und dann herrschte Stille. Die Tür fiel ins Schloss, der Lichtkegel erzitterte ein wenig, dann zog er sich zurück und begleitete Filip die Straße hinab.
Als Vera sie zwickte, wurde Mira sich bewusst, dass sie ihr immer noch mit aller Kraft die Hand auf den Mund presste. Rasch ließ sie los und spürte, wie ein Kribbeln durch ihren vor Anspannung steif gewordenen Arm wanderte. Ihr ganzer Körper fühlte sich verkrampft an, und plötzlich war sie furchtbar erschöpft.
Ein Klicken ließ sie beide zusammenfahren. Die Tür hinter ihnen war aufgesprungen. „Schsch“, ertönte eine tiefe Stimme aus der Dunkelheit dahinter. „Hier rein. Schnell.“
Das ließen sich die Mädchen nicht zweimal sagen.
Mira hatte noch nie das Gesetz gebrochen. Mit einem Staatsbeamten zum Vater hatte sie dazu auch reichlich wenig Gelegenheit gehabt. Gerald Robins hatte stets zwei besonders wachsame Augen darauf gehabt, dass seine Tochter auf dem rechten Weg war und blieb.
Aber nach dem Diebstahl des Buches hatte eines zum anderen geführt. Innerhalb von kaum mehr als vierundzwanzig Stunden hatte sie gestohlen, eine verbotene Schrift gelesen, ihre Freundin zu einer Straftat angestiftet und die Ausgangssperre missachtet. Im blassen Licht einer Taschenlampe inmitten der Regale von „Porters Höhle“ zu stehen erinnerte sie einmal mehr daran, wie verboten es war, hier zu sein. Und wie unfassbar gefährlich.
Die Beleuchtung reichte gerade einmal aus, die Konturen der Einrichtung sichtbar zu machen und ihre Gesichter zu erhellen. Mira fragte sich, ob sie genauso verängstigt aussah wie Vera, deren Miene schreckensstarr war. Ihr Haar war staubig, und der Abdruck des Kiesbodens prangte auf ihrer Wange. Das Ausweisbändchen an ihrem Arm hatte auch ordentlich etwas abbekommen: Mitten durch den neunstelligen Code zog sich ein scharfer Knick.
Edmund Porter war die Ruhe selbst. Er zog die Vorhänge zu, zündete eine Kerze an, verstaute die Taschenlampe in einer Schublade und setzte sich in seinen Ohrensessel. „Es ist gefährlich“, sagte er dann, „um diese Zeit unterwegs zu sein.“
Vera stieß die Luft aus, als wollte sie ein sarkastisches „Wem sagen Sie das?“ loswerden. Doch außer dem Schnauben kam kein Laut über ihre Lippen. Überhaupt sah sie so aus, als wäre sie nicht fähig, jemals wieder ein Wort zu sagen.
„Uns zu helfen war ebenfalls sehr gefährlich.“ Mira straffte die Schultern. Edmund Porter hatte ihnen nicht den Hals gerettet, um sie nun ans Messer zu liefern. Und auch seine Ermahnung schien nicht wirklich von Herzen zu kommen. Mira wurde das Gefühl nicht los, dass er sie erwartet hatte. Vielleicht nicht jetzt, nicht mitten in der Nacht … aber doch erwartet.
Sie nestelte am Bund ihrer Bluse herum und zog schließlich das ledergebundene Buch hervor. „Es tut mir leid“, sagte sie aufrichtig. „Ich habe das hier gestern mitgenommen.“
„Ich weiß.“ Edmund Porter war nun dazu übergegangen, seine Pfeife zu stopfen. „Ich wusste, dass du dir kein Buch entgehen lassen würdest, das du noch nicht kennst. Schon gar keines voller Abenteuer und Weisheit.“ In seinen Augen glitzerte die Heiterkeit. Mira konnte es nicht fassen, wie gelassen er es hinnahm, dass sie mitten in der Nacht in seinem Laden stand und zugab, eines seiner Bücher gestohlen zu haben. Noch dazu ein so gefährliches.
„Es ist verboten“, würgte Vera schließlich heraus. „Dieses Buch müsste gemeldet werden!“ In ihrer Stimme vibrierte die Angst.
Edmund Porter nahm den ersten Zug von seiner Pfeife. „Zwei Mädchen, die des Nachts durch die Straßen wandern, müssten auch gemeldet werden.“
Vera sog die Luft ein und sah sich panisch um, als suche sie einen Fluchtweg.
„Ich habe kein Interesse daran, jemanden in Schwierigkeiten zu bringen. Aber dass ihr hier seid – noch dazu um diese Zeit –, zeigt mir, dass ihr das Risiko nicht scheut.“ Er stieß den Rauch aus. Nach wie vor machte er keine Anstalten, Mira das Buch abzunehmen. „Das ist gut. Dieses Buch bringt viele Probleme mit sich.“
Das erinnerte Mira an den eigentlichen Grund ihres Kommens. Sie holte tief Luft und fragte geradeheraus: „Wo ist der Rest der Geschichte?“
Vera neben ihr keuchte erschrocken. Wie zwei grüne Laternen flackerten ihre angsterfüllten Augen im Kerzenlicht.
„Ich konnte es nicht zu Ende lesen, weil die Seiten herausgerissen wurden. Das Ende fehlt.“
Edmund Porter nahm einen weiteren tiefen Zug von seiner Pfeife. „Ah. Ja.“ Er lächelte. „Matthäus. Du hast längst nicht alles herausgefunden.“
Es ärgerte Mira, dass er sie vergnügt anlächelte, so als wäre ihr etwas ungemein Wichtiges entgangen. Vera stand immer noch wie versteinert da und war auch keine besonders große Hilfe. „Das Ende“, fuhr Edmund Porter jetzt fort, „fehlt nur bei Matthäus.“
„Die anderen Geschichten interessieren mich nicht“, entgegnete Mira ärgerlich. Die Anspannung in ihr stieg ins Unermessliche. Sie war so kurz davor, das Geheimnis zu lüften und den Rest der Geschichte zu erfahren. „Ich will wissen, was mit seinen Freunden passiert. Können Sie es mir erzählen? Bitte“, fügte sie hastig hinzu, weil sie feststellte, dass ihre Frage mehr wie ein Befehl geklungen hatte.
„Natürlich kann ich. Aber ich bin fast ein wenig enttäuscht, dass du nach Matthäus aufgegeben hast. Markus und Lukas hätten dir alles verraten. Und Johannes.“
„Sie meinen, die gleiche Geschichte ist mehr als einmal in diesem Buch?“, fragte Mira.
„Viermal, um genau zu sein.“
Ein Kribbeln machte sich in Miras Bauch bemerkbar. Nun war auch bei Vera die Neugier der Angst über den Kopf gewachsen. „Aber wie können vier Schriftsteller die gleiche Geschichte aufschreiben?“, fragte sie.
„Ja, das scheint ungewöhnlich“, erwiderte Edmund Porter immer noch völlig entspannt. Wie er da in seinem Sessel lehnte, hätte man leicht meinen können, es wäre nicht mitten in der Nacht und sie sprächen nicht bei einem äußerst verbotenen Treffen über eine äußerst verbotene Geschichte.
Mira atmete tief ein. Die Luft roch nach süßem Tabak und der Kälte der Nacht. „Das alles ist wirklich passiert, nicht wahr?“ Irgendwie hatte sie es die ganze Zeit geahnt. Schon als sie tränenüberströmt die letzte grausige Szene gelesen hatte.
Edmund Porter löschte sorgfältig seine Pfeife, legte sie weg und stand auf. Jede Heiterkeit war aus seinem Gesicht gewichen. Seine Stirn lag in sorgenvollen Falten. „Wäre diese Geschichte ein Märchen“, sagte er, als er dicht vor ihnen stand, „hätte man sie nie verboten. Der Staat könnte nicht tun, was er tut, wenn die Leute um die Wahrheiten in diesem Buch wüssten.“
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