Der Krimi ist vermutlich so beliebt, weil er die Schreckensvision dessen, was uns persönlich zustoßen kann, kunstvoll bannt. Deshalb akzeptiert er es auch als seine Aufgabe zu erklären, warum Menschen unvorstellbare Verbrechen begehen.
Rache
Psychologen sagen, jeder Mensch habe in seinem Leben schon mindestens einmal gewünscht, eine Person umzubringen. Aber die wenigsten tun es. Im Allgemeinen vermutet man, es hänge damit zusammen, dass wir die Folgen fürchten, also Ausgrenzung und Strafe. Andere meinen, Menschen hätten wie die meisten Tiere eine natürliche Hemmung, Mitglieder ihrer eigenen Art zu töten. Das trifft allerdings schon im Tierreich nicht zu. Die sozialen und moralischen Sperren in einer Zivilgesellschaft sind jedoch ziemlich hoch. Und komplex. Damit ein Mensch sich entschließt zu töten, muss vieles zusammenkommen.
Von allen Hassgefühlen verstehen wir keines so gut wie das Gefühl: Dem zahle ich es heim.
Der Investmentvertreter Harry Brenner hat hundert Anleger um ihr Erspartes betrogen, indem er ihnen wertlose Ostimmobilien als Geldanlage fürs Alter empfahl. Er suggerierte Renditen von über 100 Prozent. Die Immobilien erweisen sich als leerstehende Bauruinen. Die Betrogenen zeigen Harry Brenner wegen Betrugs an. Er nimmt sich einen guten Rechtsanwalt, der vor Gericht darlegen kann, dass das Kleingedruckte Hinweise enthielt, dass die Rendite sehr viel niedriger liegen kann. Einer der Kläger, der Rentner Müller, verliert schon im Gerichtssaal die Nerven und wird rausgeschickt. Der Richter befindet, allein der gesunde Menschenverstand und die Lebenserfahrung hätten Müller sagen müssen, dass Renditen von über 100 Prozent nicht vorkommen können, und spricht den Angeklagten vom Vorwurf des Betrugs frei.
Auf der Treppe vor dem Amtsgericht wartet Rentner Müller auf den siegreichen Angeklagten, zieht eine Pistole und schießt ihn nieder.
Versuchen wir uns zu erinnern, wann wir zuletzt in den Medien von so einem Mord gehört haben. Wann ist ein zynischer Banker, ein Betrüger, ein Pädokrimineller, ein Vergewaltiger oder ein mobbender Chef ermordet worden? Im Ernst: Solche Morde geschehen in Realität fast nie. Und das, obgleich es uns überhaupt nicht schwerfällt, Wut und Rache, das Bedürfnis nach Gerechtigkeit als überzeugendes Motiv zu akzeptieren. Es gibt zahllose Filme und Romane, die ihren Handlungsimpuls aus dem Rachefeldzug ihres Protagonisten beziehen. Und wir wünschen dem Täter Erfolg und Freispruch.
Tatsächlich aber lohnt es sich nicht, einen Betrüger oder Vergewaltiger zu ermorden. Der Gewinn wiegt den hohen Einsatz nicht auf. Rentner Müller bekommt sein Geld nicht wieder, wenn er den Betrüger erschießt, und während Harry Brenner nun tot und seine Sorgen los ist, kommt er selbst als Schütze lebenslänglich ins Gefängnis und hat jede Menge Ärger. Auch eine vergewaltigte und ermordete Tochter wird nicht wieder lebendig, wenn ich den Täter töte. Aber bestimmt komme ich dafür lange hinter Gitter.
Wenn es doch passiert, haben solche Taten einen erschreckend pubertären Charakter. Sie passen eher in die Phase der menschlichen Entwicklung, in der wir zu überdimensionalen und absoluten Gefühlsreaktionen neigen und in unserem Bewertungssystem noch nicht das Wichtige von Unwichtigem zu trennen gelernt haben. Da wird eine banale Kränkung zur tödlichen und unsere Reaktion auch.
Des Nachts im November 2007 nimmt eine 15-Jährige die Pistole ihres Vaters aus dem Tresor und setzt das Magazin ein. Mit der Waffe geht sie in das Zimmer ihres Bruders und macht Licht. Der zehn Jahre ältere Bruder wacht auf. Sie drückt zwei Mal ab. Aber es löst sich kein Schuss, denn sie hat vergessen, die Waffe durchzuladen. Die Mutter vertraut die Geschichte einem Lehrer an, und der verständigt die Polizei. Das Gericht verurteilt das Mädchen ein Jahr später zu zwei Jahren auf Bewährung. Als Motiv erkennt das Gericht an, dass der Bruder das Mädchen am Tag der Tat schwer sexuell beleidigt, gedemütigt und verletzt hatte. Mehr wird aus der Verhandlung nicht bekannt. (dpa, Dezember 2008)
Wenn Jugendliche einen Rentner zusammenschlagen, der sie in der U-Bahn auffordert, nicht zu rauchen, tun sie im Grunde genau das, was wir eigentlich gut verstehen: Sie strafen den ab, der ihnen dumm und frech kommt. Nur in diesem Fall schütteln wir die Köpfe, weil in unseren Augen das Ausmaß von Gewalt dem Anlass nicht angemessen ist. Aber das ist es genauso wenig bei Schüssen auf einen betrügerischen Investmentvertreter, der uns um die Ersparnisse fürs Alter gebracht hat.
Die naheliegende Idee, dass eine Frau langjährige Misshandlungen durch ihren Ehemann mit einem feinen Mord beendet, entspricht auch nicht dem, was in Realität passiert. Denn die Gefühle, die ein Opfer (von Gewalt, Mobbing oder Ungerechtigkeit) durchlebt und in sich ansammelt – Wut, Angst, Ohnmacht, Hass –, taugen kaum als Antrieb für eine große Tat. Opfer fühlen sich ohnmächtig.
Tötet ein Opfer oder aber – eher möglich – der Elternteil eines Opfers doch, so sind seine Gefühle so gut nachvollziehbar, dass sogar die Gerichte mildernde Umstände berücksichtigen. Wir neigen dazu, Rachetaten und Selbstjustiz zu entschuldigen. Einem Bösen etwas Böses antun, ihn also strafen, entspricht unseren primitiven kriegerischen Gefühlsstrukturen, auch wenn in westlich-bürgerlich geprägten Gesellschaften wie Deutschland gerade diese Gefühle wirkungsvoll in Schach gehalten werden.
Am 6. März 1981 erschießt Marianne Bachmeier im Gerichtssaal in Lübeck den noch nicht verurteilten Mörder ihrer Tochter, Klaus Grabowski. Einen solchen Fall von Selbstjustiz hat es bis dahin in Deutschland nicht gegeben. Nach eigener Darstellung hat Bachmeier vor allem auf die Behauptungen Grabowskis reagiert, ihre kleine Tochter Anna habe ihre Misshandlung provoziert, sei selber schuld und habe ihm sogar gedroht, Lügen über ihn zu erzählen. Sie habe gewollt, dass der Mann aufhört, ihre Tochter zu diffamieren. Sie schießt am dritten Verhandlungstag dem Angeklagten in den Rücken. Sie drückt acht Mal ab, sechs Schüsse treffen. Grabowski ist sofort tot. Bachmeier wird 1982 jedoch nicht wegen Mordes verurteilt, obgleich die Tat, juristisch gesehen, Merkmale wie Planung und Heimtücke aufweist, sondern wegen Totschlags, und zwar zu sechs Jahren Haft. Bachmeier stirbt 1996, wieder in Freiheit, im Alter von 46 Jahren an Krebs.
Dass Bachmeier sich eine Waffe besorgte und tatsächlich schoss, hat vermutlich auch mit ihrer Biographie zu tun. Sie ist auffällig unbürgerlich, gebrochen und von Gewalterfahrungen geprägt ( Frauenquote).
Herrschsucht
Gedemütigte suchen Anlässe, die sie aus der Depression holen. Dafür müssen sie das neuronale Belohnungssystem in Gang setzen. Es basiert auf dem Neurotransmitter Dopamin, auch als Glückshormon bekannt. Die Dopamin-Ausschüttung im Hirn als Belohnung für eine Anstrengung, die mit hohem Risiko verbunden sein kann, ist das stärkste Stimulans für Hochleistungen und Wiederholungstaten. Es ist das, was Kinderpornovertreiber und -nutzer im Internet blind macht für das Risiko, erwischt zu werden, was Betrüger, Erpresser und Diebe immer weiter treibt, obgleich der Untergang schon absehbar ist, was Serienmörder bezwingt ( Serienmörder).
Wer mordet, sucht und erlebt ein Gefühl von Macht. Er sucht Kontrolle über sein Leben und die Bedingungen, die es bestimmen, er gewinnt Handlungsmacht. Das gilt für einen Amokläufer genauso wie für einen Vater, der seine Familie auslöscht. Sie sehen sich als Opfer, sind aber faktisch Täter.
Strafe
Darunter fallen Mafia-Morde, die auch in Deutschland nicht so selten sind. Sie dienen der Warnung. Die Bestrafung eines Abtrünnigen soll anderen Angst machen, die mit dem Gedanken spielen, sich nicht mehr den Regeln der Mafia zu unterwerfen. Auch bei der Blutrache handelt es sich um ein innerhalb des sozialen Zusammenhangs anerkanntes Mittel der Strafe. So demonstriert eine Gruppe ihre Macht. Unter Umständen tut das auch ein Staat, der die Todesstrafe verhängt, ebenfalls mit dem Argument der Abschreckung, die aber, wie wir wissen, nicht wirkt. Denn es gibt auch Individuen, die ihre Angst, getötet zu werden, überwinden, entweder weil sie glauben, davonzukommen oder berühmt zu werden, weil sie verliebt sind oder weil sie nichts mehr zu verlieren haben.
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