Da meine Angelegenheiten nun so weit wie nöthig geordnet waren, die eigentliche Einstellung aber erst einige Tage später stattfand, so hielt mein Vater seine Anwesenheit in Lüneburg nicht länger mehr für nöthig. Er reiste am folgenden Tage ab und überließ mich meinem Schicksale.
Ich fühlte mich in der fremden Stadt und unter all den fremden Leuten, von denen ich mich umgeben sah, recht verlassen und es kam allmählich ein Gefühl über mich, welches große Ähnlichkeit mit Heimweh hatte. Ich kämpfte tapfer dagegen an und suchte meine trübe Stimmung dadurch zu verscheuchen, daß ich mich fleißig auf den Wällen und in den Straßen der Stadt erging; auch auf die Umgebung der Stadt dehnte ich meine Spaziergänge aus. Das Gefühl des Verlassenseins verlor sich bei diesen Wanderungen mehr und mehr und in ziemlich guter Verfassung erreichte ich den Tag der Einstellung.
In einem Wirthslocale an der Neuen Sülze hatten sich die zum Militärdienst Ausgehobenen am Morgen des 16. April zu stellen. Ich wurde brauchbar befunden, in die Listen eingetragen und der 6. Compagnie des 5. Infanterie-Regiments zugetheilt. Mit den anderen der Compagnie überwiesenen Mannschaften, insgesamt etwa 30 Mann, marschierte ich unter Führung eines Unterofficiers nach dem Compagnieboden, welcher sich in einem Hintergebäude der an der Grapengießerstraße belegenen F ...schen Gastwirthschaft befand.
Hier wurden wir mit einem Anzuge, bestehend aus Tuchhose, Ärmelweste, Halsbinde und Feldmütze, außerdem mit einem Quartierbillet, auf einen Tag lautend, versehen. Sodann wurden wir mit der Weisung entlassen, uns am Morgen des nächsten Tages pünktlich zu einer bestimmten Stunde auf dem Schloßhofe einzufinden.
Nachtrag 1895: Die hier geschilderte altdeutsche Schenkstube ist leider inzwischen ihres Schmuckes beraubt worden; der Besitzer hat die Täfelungen und Holzschnitzereien an einen Antiquitätenhändler verkauft.
Das Quartier, welches mein Billet mir nachwies, befand sich in einer entlegenen Gasse in der Nähe des Rothen Thores. Ich fand das kleine bescheidene Häuschen sehr bald auf; es lag mit dem schmalen Giebel nach der Straße. Das mittelalterliche Backsteinmauerwerk sowie der überwölbte, nischenartige Thüreingang ließen auf ein ehrwürdiges Alter schließen. Auf dem schmalen Hausflur trat mir die Wirthin entgegen, eine recht ansehnliche Frau in den vierziger Jahren. Als ich ihr das Billet überreicht hatte, betrachtete sie mich eine Weile von Kopf bis zum Fuß, dann schlug sie, anscheinend sehr verwundert, die Hände zusammen und rief in die halbgeöffnete Thür der Wohnstube: „O Minna, wat för’n lütten Soldaten hebbt wi da kregen!“
Minna – die Tochter der Wirthin, wie ich später erfuhr – erschien auf der Schwelle. Sie war etwas leicht und nachlässig gekleidet, aber sie war jung und recht hübsch von Gestalt und Ansehen.
Fräulein Minna schien gleichfalls etwas überrascht zu sein, doch war sie augenblicklich nicht im Stande, ihr Erstaunen durch eine Handbewegung oder durch einen Ausruf zu bekräftigen; sie hielt nämlich zwischen den Lippen eine Haarnadel und die Hände brauchte sie, um ihr blondes dichtes Haar, welches ihr wirr um die Stirn und Nacken hing, nothdürftig zu ordnen und am Hinterkopfe zu einem Knoten aufzuwickeln. Mit einer einladenden Kopfbewegung unterstützte das junge Mädchen ihre Mutter, welche mich inzwischen wiederholt zum Eintritt in das Zimmer aufgefordert hatte.
Ich folgte zögernd dieser Einladung. Da ich mich dabei wohl etwas linkisch und verlegen zeigte, so kam Fräulein Minna, die inzwischen ihre Hände frei bekommen hatte, mir in liebenswürdiger Weise zu Hülfe; sie frug nach meinem Namen und befreite mich gleichzeitig von den „Königlichen Montirungsstücken“, die ich noch immer krampfhaft unter dem linken Arme fest hielt. Sie hing Ärmelweste und Tuchhose an den ersten besten Nagel, faßte mich dann am Arme und führte mich zu dem im Zimmer befindlichen altmodischen Sopha. In einer Ecke desselben mußte ich mich nieder lassen, während sie selber sich mir gegenüber auf einen Stuhl setzte und sofort in lebhafter und unbefangener Weise zu plaudern begann. Inzwischen war die Mutter des jungen Mädchens beschäftigt, den Tisch zu decken und das Mittagessen aufzutragen. Als sie damit fertig war, versetzte sie mir einen vertraulichen Schlag auf die Schulter. „So min lütt Soldat, nu laten Se sick dat good smecken. Se möt ganz so dohn, as wenn Se hier to Hus hört.“
Allerdings fühlte ich mich nach einigen Stunden Aufenthalt in meinem Quartiere denn auch ganz wie zu Hause. Meine Befangenheit sowie die Anwandlungen von Heimweh, welche sich während des letzten Tages verschiedentlich bemerkbar gemacht hatten, waren völlig verschwunden. Meine Wirthin schien mir der Inbegriff aller Herzensgüte und Liebenswürdigkeit zu sein, und als Fräulein Minna ihr etwas dürftiges Morgengewand mit einem grauen gutsitzenden Kleide vertauscht und ihr üppiges Haar recht hübsch geordnet hatte, konnte sie, so meinte ich, an Schönheit mindestens mit einer Prinzessin wetteifern. Aber nicht allein schön und liebenswürdig war die junge Dame, sondern auch praktisch. Sie hatte irgendwo in einem Winkel des Hauses eine Knopfgabel aufgefunden, welche von einer früheren Einquartierung dort zurückgeblieben sein mochte. Sie unterwies mich in der Handhabung dieses Instrumentes und versetzte mittelst eines Lederlappens und etwas Putzpulvers die erblindeten Knöpfe meiner Ärmelweste in einen solch’ strahlenden Glanz, daß selbst das Auge des diensteifrigsten Corporals daran seine Freude gehabt haben würde.
Ich hatte nun nichts Eiligeres zu thun, als mich in das mir angewiesene Bodenkämmerchen zu begeben und mich „in Uniform zu werfen“. Soviel ich in einem Stückchen Spiegelglas, welches sich in dem Schlafraum vorfand, wahrnehmen konnte, stand mir die kriegerische Gewandung gar nicht übel. Die Ärmelweste war allerdings reichlich weit. Dies Bekleidungsstück war eine Jacke ohne Schooß, sie verlieh ihrem Träger etwas Unfertiges, Abgeknapptes und erinnerte lebhaft an ein Insekt, welches sich noch in Verwandlung befindet. Die Ärmelweste war bei dem gemeinen Mann nie beliebt gewesen, sie stand daher auch längst auf dem Aussterbeetat und wurde nur noch als Zugabe zu den sonstigen reichlich vorhandenen Bekleidungsstücken ausgegeben.
Die Feldmütze keck aufs Haupt gedrückt, erschien ich in vollem Wichs unten in dem Wohnzimmer meiner Wirthsleute. Im Allgemeinen gefiel meine Erscheinung, im Besonderen aber tadelte Fräulein Minna die ungebührliche Brustweite meiner Ärmelweste. Ich hätte allerdings in dem leeren Raum, der „zwischen Brust und Tuchgewand“ verblieb ganz bequem ein Commisbrod fortschmuggeln können, aber ich tröstete mich nach Bauernweise mit dem „Towaß“; wie mit der Zeit der Kürbis eine leere Flasche, in die er im ersten Entwicklungsstadium hineingeleitet worden, völlig auszufüllen vermag, so hoffte ich auch mit der Zeit den leeren Raum meiner Ärmelweste zu überwinden. Die Wirthin pflichtete mir darin bei, keineswegs aber Fräulein Minna. Kurz entschlossen, ergriff sie ein Messer und schnitt im Nu sämmtliche Knöpfe von der Weste herunter. Bevor ich Zeit hatte, mich von dem Schrecken über diesen Vandalismus zu erholen, hatte Minna mit ihren zierlichen weißen Fingern schon ein Stück Kreide ergriffen und die neuen Stellen bezeichnet, wohin von Rechtswegen die Knöpfe gehörten. Hierauf mußte ich mich ohne Verzug des Monturstücks entledigen. Gar emsig ließ das junge Mädchen sodann die mit blauem Zwirn gefädelte Nadel durch das harte und steife Militairtuch gleiten und in kurzer Zeit war meine Ärmelweste in einen Zustand versetzt worden, der Menge und Zeit des „Zuwachses“ auf ein sehr geringes Maß herunterdrückte. Daß meine liebenswürdige Wirthstochter durch diese kühne und entschlossene That noch bedeutend in meiner Achtung stieg, bedarf wohl kaum der Erwähnung.
Читать дальше