Ich hatte mir vorgestellt, dass alle Italiener, ja alle Europäer so freundlich waren wie der Kapitän der Küstenwache. Das war dann leider doch nicht so. Nachdem wir von Bord gegangen waren, wurden wir registriert, und es kam uns vor, als behandelten sie uns wie Vieh. Die Beamten bei der Registrierung waren unfreundlich. Überall standen bewaffnete Polizisten, die darauf achteten, dass keiner von uns flüchtete. Ich hatte Mo und den anderen eingeschärft, niemandem von meiner Rolle auf dem Boot zu erzählen. Stattdessen gab ich bei der Registrierung an, ein Flüchtling aus Dafur zu sein. Der Beamte füllte das Formular aus, ohne mich überhaupt näher anzusehen. Wenn ich sagte, ich käme aus Dafur, dann war das wohl auch so.
Die Bezeichnung Großer Käfig war nicht übertrieben. Ich hatte mir vorgestellt, dass es in Europa selbst bei einer Art Internierung bedeutend besser zugehen würde, als in Libyen. Doch die Verhältnisse waren genauso schlimm – mit dem Unterschied, dass wir nun im Knast saßen und offenbar niemand so genau wusste, was mit uns passieren sollte. Wir wurden von den Aufsehern schikaniert, von den Einwanderungsbeamten und eigentlich von allen, die mit uns zu tun hatten. Die Botschaft war klar: Ihr seid hier nicht willkommen. Auch untereinander wuchs die Aggressivität wieder beträchtlich. Manche Flüchtlinge saßen schon seit Monaten in dem Käfig. Keiner wusste, wie lange er hierbleiben würde.
Mo und ich hatten Glück. Wir mussten nur fünf Tage auf Lampedusa verbringen. Dann plötzlich wurden wir abgeholt. Ein Carabiniere brachte uns auf ein Schiff, auf dem bereits drei andere Flüchtlinge warteten. Wohin wollten sie uns bringen? Keine Antwort. Wir wurden von zwei Carabinieri begleitet. Sie brachten uns nach Messina auf den Bahnhof. Einer der beiden Beamten erklärte: ›Ihr habt jetzt fünf Tage, um das Land zu verlassen. Werdet ihr danach in Italien aufgegriffen, schicken wir euch zurück in eure Heimatländer. Also, wo wollt ihr hin?‹
Die anderen drei tuschelten und sagten etwas von Schweden. Ich fragte Mo: ›Deutschland?‹ Mo zuckte mit den Schultern und nickte. Der Carabiniere ging an den Schalter und sagte: ›Dreimal Malmö, zweimal München.‹
Zwei Stunden später saßen wir zu fünft in einem Abteil und tauschten unsere Geschichten aus. Die drei anderen hatten sich ebenfalls als Flüchtlinge aus Dafur ausgegeben. Tatsächlich kamen sie aus Mali. Sie hatten schon eine gescheiterte Flucht hinter sich. Vor zwei Jahren hatten sie es über die sogenannte Westroute über Marokko nach Spanien versucht. Doch sie scheiterten beim Versuch in die spanische Exklave Melilla zu kommen. Ich erfuhr, dass dort über 30 000 Menschen in einem Camp lebten, die alle irgendwie versuchen wollten, die sechs Meter hohen Zäune zu überwinden. Auch Marokko, so wurde gemunkelt, hatte schon Flüchtlinge in der Wüste ausgesetzt. Deshalb hatten es die drei dieses Mal über die mittlere Route versucht.
Ich wollte wissen, warum sie ausgerechnet nach Schweden wollten. Soweit ich wusste, lag Schweden so weit im Norden, dass dort ewig Schnee lag. Die drei anderen mussten lachen, als ich ihnen mein Schwedenbild zeichnete. So zeigten sie mir Fotos von Schweden, auf denen kein Krümelchen Schnee lag. Im Gegenteil. Alles war grün, lag im Sonnenschein. Nur die roten Häuschen fand ich ein wenig merkwürdig.
In Schweden, erklärte einer der drei, würden die Menschen einfach am besten behandelt. Ich wurde stutzig. ›Aber ich dachte, in Deutschland sei alles so einfach?‹ Wieder lachten die drei.
Mo indes meinte, ich sollte mich jetzt nicht verrückt machen lassen. Er habe Freunde in Berlin und irgendwie würde man ja schon von München nach Berlin kommen. Die Freunde würden uns sicher weiterhelfen. Die drei anderen wünschten uns grinsend viel Glück.
Wir redeten noch ein wenig miteinander, dann fielen wir einer nach dem anderen in einen tiefen Schlaf.
Es war früher Morgen, als der Zug in München einlief. Wir verabschiedeten uns von unseren drei Mitreisenden und stiegen aus. Wir waren völlig eingeschüchtert von der Größe, den Menschen, den Autos, aber irgendetwas mussten wir jetzt ja tun. Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, hätte ich für mein allerletztes Geld eine Fahrkarte nach Berlin gekauft. Leider folgte ich dem Vorschlag von Mo. Er sagte, dass es das Schlaueste wäre, sich bei der Bahnpolizei zu melden und einfach mal das Wort Asyl zu sagen. Alles Weitere werde sich dann schon ergeben.
So standen wir nach einer halben Stunde in der Wache der Bahnhofspolizei und sagten wie aus einem Mund: ›Asyl‹. Ein Beamter saß am Schreibtisch, notierte noch etwas und schaute uns dann gelangweilt über den Rand seiner Brille an. Dann drehte er sich um und rief über die Schulter: ›Schorsch, da san wieder zwoa.‹
Wir wurden in einem provisorischen Containerdorf untergebracht.
Wir waren froh über die Unterkunft, darüber, dass es regelmäßig etwas zu essen gab und dass die sanitären Verhältnisse stimmten, zumindest nach unseren damaligen Vorstellungen, hatten wir auf unserer Flucht doch unsagbar schlimme Dinge erlebt.
Wir wollten so schnell wie möglich weiter nach Berlin reisen. Doch da erlebten wir eine böse Überraschung.
›Das wird nicht möglich sein‹, erklärte uns ein freundlicher, aber sichtbar gestresster Mitarbeiter der Ausländerbehörde auf Englisch, der nur dafür abgestellt war, sich mit unseren Wünschen auseinanderzusetzten, um sie dann praktisch immer freundlich aber bestimmt abzulehnen.
›Als Asylbewerber unterliegen Sie der sogenannten Residenzpflicht.‹
›Was heißt das?‹, wollte ich wissen.
›Das heißt, dass Sie die Stadt München nicht verlassen dürfen.‹
Wir waren beide völlig perplex.
›Warum denn das?‹, fragte ich.
›Die Regelung gilt natürlich nur, solange Ihr Antrag auf Asyl läuft. Wenn darüber entschieden ist, werden sie entweder abgeschoben oder anerkannt, dann können sie sich natürlich frei bewegen. Naja, sie können auch nach der Ablehnung ihres Asylantrages versuchen, eine Duldung zu bekommen. Aber dann unterliegen sie natürlich wieder der Residenzpflicht.‹
›Aber warum denn?‹
Der Beamte zuckte mit der Schulter. ›So ist die Rechtslage. Haben Sie vielleicht Verwandte in Berlin? Kinder? Eine Ehefrau? Eltern?‹
Ich schüttelte nur traurig den Kopf.
›Ich habe Freunde‹, rief Mo.
Der Beamte lächelte nachsichtig. ›Das wird leider nicht reichen.‹
›Aber ich könnte bei ihnen wohnen, essen und trinken, ich würde auch meinen Freund hier mitnehmen. Dann kostet es den deutschen Staat doch nichts. Daran müssen Sie doch auch Interesse haben.‹
›Es tut mir leid meine Herren, aber da sind mir leider die Hände gebunden. Wenn sie nichts mehr Wichtiges haben … bitte, da draußen warten noch andere Fälle, die meine Hilfe brauchen.‹
Völlig verdattert verließen wir das Container-Büro und liefen prompt einem jungen Deutschen in die Arme, der uns aufgeregt fragte, was da drinnen abgelaufen sei. Mo und ich schauten uns an und erzählten dann von unserem doch etwas merkwürdigen Erlebnis mit dem Beamten.
Der junge Mann winkte nur ab. ›Das ist ja noch längst nicht alles. Ihr dürft hier gar nichts. Arbeiten beispielsweise, um eigenes Geld zu verdienen – keine Chance. Eine Ausbildung, um sich hier zu qualifizieren – kannst du vergessen‹, rief er empört. ›Aber damit soll nun Schluss sein. Wir werden die jetzt unter Druck setzen. Nächste Woche starten wir zum Marsch nach Berlin, gegen die Residenzpflicht, gegen das Arbeitsverbot und für ein bedingungsloses Bleiberecht.‹
Das hörte sich imposant an, doch wir hatten nur die Hälfte von dem verstanden, was er uns sagen wollte. Was uns klar war, war, dass er ein engagierter junger Mann war, dem unser Schicksal naheging. Das war doch schon mal was.
Читать дальше