Diese Barkasse war den Fischerbooten meiner Heimat einigermaßen ähnlich. Ich hatte schon früh von meinem Vater gelernt, auch ein relativ kleines Boot durch hohe Wellen zu steuern. Ich kämpfte mich zu dem verwaisten Ruder durch und kam genau zur richtigen Sekunde an, denn gerade drohte die Barkasse sich seitwärts zu einer Welle zu drehen, was sie unweigerlich zum Kentern gebracht hätte.
Die Besatzung hatte schon vor Stunden, als der Sturm aufzog, das Schiff mit einem Schlauchboot mit starkem Außenborder verlassen. Die Komplizen, die sie auffischen würden, waren wohl längst informiert.
Ob wir das alles heil überstehen würden, konnte zu diesem Zeitpunkt keiner sagen. Ich suchte unter dem Steuer nach Rettungswesten. Zwei waren noch da – zwei für über 200 Menschen. Ich reichte eine an Iris, die andere an Mo.
›Und du?‹, fragte Iris entsetzt.
›Ich kann wenigstens schwimmen, und du?‹
Sie schüttelte den Kopf und auch Mo hatte nie schwimmen gelernt.
Es dämmerte langsam und noch immer kämpfte unsere tapfere kleine Barkasse gegen die Wellen an. Doch es war nur noch eine Frage der Zeit, wann die See sich das kleine Schiff holen würde. Vielleicht waren wir ja schon ganz in der Nähe der italienischen Küste, vielleicht suchte auch schon ein Schiff der Küstenwache nach uns. Es gab viele Hoffnungen, an die ich mich klammern konnte, aber die Realität sah düster aus.
Es schien, als seien die Wellenberge kleiner geworden, doch so richtig war das in dem fahlen Licht nicht mehr zu erkennen. Es wurde immer schwerer nun gegen die Wellen zu fahren. Ich musste mich auf mein Gefühl verlassen. Noch immer war die Gefahr groß, dass das Schiff kentern würde, wenn wir quer zu Welle kommen sollten.
Inzwischen war ich völlig erschöpft. Es war Schwerstarbeit, das Boot mit der großen Ruderpinne auf Kurs zu halten. Mit einem Steuer wäre es wohl einfacher und weniger kräftezehrend gewesen. Trotz der Gischt, die immer wieder in mein Gesicht spritzte, trotz des ewigen Auf und Ab war ich so erschöpft, dass ich für einen Moment einnickte. In diesem Moment traf ein schwerer Brecher das Boot ein wenig schräg von der Seite. Ich wurde klatschnass. Gleichzeitig hörte ich den gellenden Schrei von Iris. Gerade hatte sie noch neben mir gesessen, doch der Platz war leer. Die Welle hatte sie über Bord gespült. Ich wollte umdrehen, wollte die Wasseroberfläche absuchen, doch inzwischen war es finstere Nacht. Ich hörte sie nicht schreien, sondern nur das Toben des Meeres. Sie war einfach verschwunden.
Es gibt noch freundliche Menschen, trotz des großen Elends.
Wieder herrschte Stille am Tisch. Keiner wagte es, das Wort an Souliman zu richten, dessen Blick jetzt wieder in einer unbestimmten Ferne haften blieb. Draußen wirbelten einige Schneeflocken durch die kalte Berliner Luft. Ein Handy klingelte. Es gehörte Mansur. Er zog es heraus und drückte den Anrufer weg, ohne überhaupt auf das Display geblickt zu haben. Etwa eine Stunde hatte er sich für die Geschichte von Souliman nehmen wollen. Nun saßen sie schon fast dreimal so lange hier zusammen. Keiner wagte es, an Aufbruch zu denken.
Souliman schüttelte sich, als wolle er für einen Moment die Vergangenheit loswerden, um sich gleich darauf wieder voll in sie zu stürzen.
Unser Boot sank nicht, obwohl ich in dem Moment, als ich realisierte, dass Iris im Meer verschwunden war, mir es sehnlichst gewünschte hätte, dass unser Schiff nun auch untergehen würde. Irgendwie überstanden wir auch noch die Nacht. Am nächsten Morgen strahlte die Sonne von einem strahlend blauen Himmel. Mir kam es vor, als wolle mich der Himmel verhöhnen. Das Schiff aber würde nicht mehr lange durchhalten. Es war so voll Wasser gelaufen, dass zwischen Bordkante und Wasser vielleicht nur noch ein oder zwei Handbreit lagen. Da hörten wir plötzlich ein Knattern und wenige Sekunden später tauchte auch der dazugehörige Hubschrauber auf. Eine Stunde später näherte sich eine Fregatte der italienischen Küstenwache.
Die Matrosen, die uns von Bord holten, waren hilfsbereit und freundlich. Es dauerte nicht lange, da hatten sie alle an Bord geholt. Vielleicht konnten wir Iris ja doch noch retten, schoss es mir durch den Kopf. Ich fragte einen der Matrosen, ob ich mit dem Kapitän sprechen dürfe. Er lachte nur und sagte ›Impossibile‹.
Plötzlich trat Mo, der stets schweigende Mo, neben mich und begann wie ein Wasserfall zu reden. ›Was glauben Sie, wer das ist, Sir?‹, fragte er den Matrosen auf Englisch. ›Ihm haben wir unser Leben zu verdanken, er ist nicht irgendwer. Wenn er nicht gewesen wäre, hätten Sie heute nur 200 Leichen aus dem Wasser fischen können. Wäre Ihnen das lieber gewesen, Sir? Der Mann ist ein Held.‹ Auch andere der Geretteten kamen nun hinzu und begannen, ein Loblied auf meine Heldentat zu singen.
Schließlich gab der Matrose nach. ›Schon gut, schon gut, ich werde euren Helden zu unserem Kapitän bringen.‹
Der Kapitän hatte einen struppigen Vollbart und trug einen Ohrring. Das fiel mir als erstes auf. Der Matrose erklärte dem Kapitän etwas auf Italienisch. Der nickte nachdenklich und schickte den Matrosen wieder weg.
›Du bist so etwas wie ein Held, hab’ ich gehört?‹
›Ich weiß gar nicht, warum.‹
›Wo kommst du her, mein Sohn?‹
Ich zögerte. Mir fielen die Worte von Gabriel wieder ein. Keinesfalls sollte ich sagen, dass ich aus dem Senegal käme, sonst würden sie mich im großen Käfig behalten und möglicherweise wieder zurückschicken. Ich holte tief Luft. ›Aus Dafur.‹
Er nickte gemächlich. ›Soso, in Dafur lernt mal also, wie man eine 15-Meter-Barkasse mit einer Ruderpinne durch sechs Meter hohe Brecher steuert. Respekt. Nein, mein Junge, du warst bisher genauso wenig in Dafur wie ich in der Kalahari.‹
Mir wurde heiß und kalt. Er hatte mich also sofort erwischt. Was sollte nun mit mir passieren? Eigentlich wollte ich ihn bitten, nach Iris zu suchen, doch das konnte ich nun vergessen.
›Es ist ein Jammer. Bist ein couragierter Bursche. Jemanden wie dich könnte ich glatt auf meiner Fregatte gebrauchen. Bist leider kein Italiener. So werden sie dich wahrscheinlich dahin zurückschicken, wo du herkommst. Gambia, Ghana? Ach, sag’s mir lieber nicht. Es ist allemal eine Schande, wie man mit euch armen Teufeln umgeht. Pass auf, ich geb’ dir einen Rat: Bleib bei deiner Geschichte und schärfe deinen Freunden ein, dass sie niemandem von deiner Heldentat erzählen. Dafür ist Dafur einfach viel zu weit vom nächsten Meer entfernt, als dass dir das jemand abnehmen würde. Du hast nichts gesagt, und ich muss ja niemandem sagen, was ich mir denke.‹
Ich war völlig verdattert über die unerwartete Wendung, so dass ich glatt vergaß, mich zu bedanken. Aber Iris vergaß ich nicht. ›Trotzdem, Herr Kapitän, ich habe noch eine Bitte. Meine Gefährtin ist in der Nacht über Bord gegangen. Vielleicht hat sie überlebt, sie trug eine Rettungsweste. Vielleicht kann ja Ihr Helikopter …‹
Er runzelte die Stirn. Mir schien, als bilde sich über seinen Augenbrauen eine kleine Gewitterwolke. Dann brummte er: ›Na, mal sehen. Wenn er noch genügend Sprit hat. Wann war das?‹
Ich musste raten, denn ich hatte kaum eine Vorstellung. Ich wusste nur, dass es rabenschwarze Nacht war. Ich sagte aufs Geratewohl: ›Gegen 23 Uhr.‹
Er nickte. ›Mal sehen, da hatten wir euch schon auf dem Radar, versprechen kann ich aber nichts, mein Sohn.‹
Neue Hoffnung keimte in mir auf. Ich war sicher, dass ich Iris spätestens am Nachmittag wieder in meine Arme schließen konnte. Doch bis wir im Hafen von Lampedusa einliefen, bekam ich keine Nachricht. Wir wurden die Gangway hinuntergeführt. Ich drehte mich um und sah den Kapitän auf der Brückennock stehen. Er zuckte mit den Schultern und schüttelte leicht den Kopf. Dann winkte er mir zum Abschied zu.
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