»Wer ist Linas Vater?«, fragte Rhys unvermittelt.
»Das darf ich dir immer noch nicht sagen, Rhys«, antwortete ich.
Nicht einmal die kleine Lina kannte den Namen ihres Vaters.
Am Abend hatte Pami mal wieder ein Date. Seit Lina auf der Welt war, hatte Pami die eine oder andere kürzere Beziehung und einige Affären gehabt. Derzeit war sie aber Single und konzentrierte sich wie ich ganz auf unser Unternehmen. Doch ab und an gönnte sie sich etwas Spaß, wie sie es nannte.
Gegen achtzehn Uhr gingen Pami, Lina und ich in meine Wohnung. Mutter und Tochter übten noch ein paar Verteidigungsgriffe auf dem Boden des Lagerraums, der früher das Wohnzimmer gewesen war, während ich Linas Bett vorbereitete. Denn wenn ihre Mutter unterwegs war, übernachtete sie stets bei mir.
Mein Zimmer war das einzige, das noch als Wohnraum verwendet wurde. Ich besaß ein französisches Bett, einen Kleiderschrank und ein Sofa – mehr brauchte ich an Möbeln nicht. Neben meinem Schlafzimmer befand sich das Büro, in dem wir auch das Verpackungsmaterial und die Schachteln für die Lieferungen aufbewahrten. Es war dort meist ziemlich unordentlich. Doch wie sagte Einstein? Wenn ein aufgeräumter Schreibtisch für einen aufgeräumten Verstand spricht, wofür spricht dann ein leerer Schreibtisch?
Dunkles, pflegeleichtes Linoleum lag in der ganzen Wohnung aus, außer in meinem Zimmer – dort hatte ich mir einen flauschigen Teppich gegönnt. Da wir jeden Tag buken, roch die Wohnung immer nach Keksen und kühlte auch im Winter nicht schnell aus.
Ich zog für Lina einen frischen Bezug auf das Kissen und suchte eine leichte Decke heraus. Mutter und Tochter hatten ihre Kabbeleien beendet, drückten sich fest zum Abschied und wünschten sich eine gute Nacht.
»Worauf hast du Lust?«, fragte ich die Kleine, als es um eine Abendbeschäftigung ging.
»DVD und P-Popcorn!«
Ich schmierte auch noch ein paar Schnitten, verzierte sie mit Gurken und Möhrchen und kochte eine große Kanne Früchtetee. Wir nahmen alles mit zu dem kleinen Sofa in meinem Schlafzimmer, ich legte ihren Lieblingsfilm Merida in den Laptop, und dann lümmelten wir fröhlich vor uns hin. Lina verschlang mehr von den belegten Broten als ich. Sie hatte die Verzierung mit »Du k-kannst es ni-nich’ lassen, was?« kommentiert. Zuerst dachte ich, sie mochte sie nicht, doch an Appetit mangelte es dem Kind nicht. Schon bei den Crusqs hatte sie ordentlich reingehauen, nun labte sie sich am Popcorn und den Häppchen.
Als der Film zu Ende war, bekam ich eine Standortmitteilung von Pami, was zugleich eine Bestätigung war, dass alles gut verlief. Der Typ hatte sie ins Hotel Kastanienhof in Prenzlauer Berg eingeladen. Sofort schrillten meine Alarmglocken. Warum ging er mit ihr nicht zu sich? Hatte er etwas zu verbergen, eine feste Freundin und fünf uneheliche Kinder, die zu Hause auf ihn warteten, zum Beispiel? Ich zwang mich zur Ruhe. Gewiss wohnte er in einer WG und wollte Pami und sich die nötige Privatsphäre gönnen. Ach ja, es musste schön sein, so begehrt zu werden!
Lina kam im Schlafanzug und mit geputzten Zähnen aus dem Bad und fragte schüchtern: »Du, A-Aili, d-darf ich n-n-n-nicht lieber b-bei dir schlafen?«
»Wenn du möchtest. Aber ich dachte, du kommst jetzt in das Alter, wo das uncool wird«, antwortete ich mit einem Lächeln.
»Ich s-s-sag d-dir, w-wenn es u-uncool wird!«, erwiderte Lina trotz des Stotterns gekonnt schnippisch und nahm sich ihr Bettzeug von der Lehne des Sofas, um es neben meines zu legen. Dann kletterte sie hinterher.
»Ich muss noch mal ins Büro, ich komme später kuscheln!«, sagte ich und hob den Laptop hoch.
»W-Warte! B-bleibst du ein bisschen u-und erzählst mir ’n-ne G-Gutenachtgeschichte?«
Oh, dachte ich, es wird wohl wirklich noch dauern, bis meine Gesellschaft uncool wird. Ich setzte den Laptop wieder ab, löschte das Licht, schlüpfte zu Lina ins Bett und strich ihr über die Stirn. Aus dem Büro schien die Schreibtischlampe schwach bis zu uns, ansonsten lag der Raum im Düstern. Lina legte ihren Kopf auf meine Brust und ich den Arm um ihren zierlichen Körper. Wie zerbrechlich sie mir in dem Moment vorkam! Ganz anders, als wenn ich sie dabei beobachtete, wie sie den Sprungkick übte oder ohne Probleme die große Kletterspinne am Bürgerpark Marzahn erklomm.
Wir schwiegen eine Weile, ehe ich sie leise in die Dunkelheit hinein fragte: »Welche Geschichte denn?«
»Die von dem Narzissten und der Prinzessin.«
Ich glaube, ihr selbst war nicht aufgefallen, dass sie nicht gestottert hatte. Ich schluckte unmerklich, das Kind sollte meine Beklemmung nicht mitbekommen.
»Es gab einmal eine tapfere Prinzessin. Sie war klug, witzig und treu, und alle hatten sie lieb. Doch das benachbarte Königreich war voller Dummköpfe, die immer blöde Fragen stellten, ohne die Antworten abzuwarten. Der Prinz dieses Landes war ebenso ein Dummkopf, geblendet durch jahrelange Reden, die seinen Hass auf das schürten, was er nicht kannte. Doch die beiden Königreiche hatten eines gemeinsam: Für ein paar Wochen im Jahr schickten sie ihre Kinder nicht in die Schule, sondern zu einer Arbeit in einem fernen Land, auf dass sie den Ernst des Lebens kennenlernten. Auch die Prinzessin und der Prinz waren davor nicht gefeit, und sie freuten sich schon darauf. Bald erfuhren sie jedoch, dass sie beide zur selben Arbeitsstätte geschickt wurden. Ihre dortige Betreuerin gab nichts auf die Eitelkeiten des Prinzen und die Befindlichkeiten der Prinzessin, sie zwang die beiden sich zu vertragen.« Ich lehnte mich vorsichtig, mit Linas Kopf auf meinem Dekolleté, in Richtung Nachtschrank, wo meine Tasse stand, nahm sie und trank einen Schluck Tee. Das Kind war völlig still und lauschte, wie die Flüssigkeit durch meine Kehle rann. »So arbeiteten sie denn stumm nebeneinanderher. Doch dabei ging so viel schief, dass sie notgedrungen miteinander reden und zusammenarbeiten mussten«, fuhr ich dann fort.
»H-Haben sie sich d-da scho-schon verliebt?«, unterbrach Lina mich.
»Vielleicht der Prinz, die Prinzessin war noch zu zornig.«
»W-Warum w-war sie zornig?«, fragte Lina und hielt den Atem an.
Ich wusste genau, dass sie viel mehr verstand, als sie vorgab. »Weil er ihr früher oft wehgetan hatte. Sie hatten immer viel Streit.«
»Aber s-s-sie h-hat es sich n-n-nich’ gefallen lassen!«
»Nein, das hat sie nicht. Sie hatte nie Bange, ihm die Nase zu brechen. Dreimal oder so. Seine Nase war schrecklich schief.«
»War er tr-trotzdem h-hübsch?«
»Leider ja, er war ein wahrer Schönling. Und bald lernte ihn die Prinzessin auch von einer anderen Seite kennen. Als er sie das erste Mal anlächelte, spürte sie, dass er sie ganz tief im Herzen eigentlich mochte.«
»Und dann?«, fragte Lina gespannt, obwohl sie die Geschichte schon so oft gehört hatte.
»Als beide wieder in die Schule gingen und in ihre eigenen Königreiche zurückgekehrt waren, verschwand das Lächeln des Prinzen. Er schien alles vergessen zu haben. Und doch merkte die Prinzessin, wie oft sie an ihn dachte. Sie litt ganz furchtbar und vertraute sich ihrer Freundin an, die aber reagierte böse. Sie hatte kein Verständnis für den Kummer der Prinzessin, denn sie war noch nie verliebt gewesen. Der Gedanke, dass ihre Prinzessin diesen dummen, bösen Prinzen liebte, schürte ihre Wut und bereitete ihr Angst. Sie sah sich umso mehr bemüßigt, die Prinzessin von ihm fernzuhalten und ihn zu beobachten. Doch dann bemerkte sie, dass er der Prinzessin ebenso verstohlene Blicke schenkte, dass sich etwas an ihm verändert hatte. Aber er verließ sein Königreich niemals.«
Lina atmete aufgeregt.
»Die Prinzessin hütete ihre Liebe wie ein Geheimnis, liebte und hasste den Prinzen gleichzeitig – und sich selbst auch, weil sie immerzu an ihn denken musste. Nie mehr vertraute sie sich ihrer Freundin oder irgendjemand anderem an, weil sie wusste, dass sie nur harte Worte ernten würde. Die Jahre vergingen, und als die Kinder die Schule verließen, hoffte die Prinzessin, endlich von dem Prinzen loszukommen, weil sie ihn von nun an nie wiedersehen würde. Beide würden in ihren Königreichen bleiben, und sie würde in einem anderen Land einen Prinzen finden, der sie verdiente, dachte sie sich. Doch eines Tages stand der Naziprinz plötzlich vor ihr.«
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