»Möchtest du neben mir stehen?«, hatte sie gefragt.
Ich hatte mit offenem Mund genickt.
»Darf ich dich Aili nennen?«
»Bist du meine Freundin?«, hatte ich ungläubig geflüstert.
»Wenn du magst«, hatte Pami nur gesagt, gegrinst und schließlich nach vorne geblickt.
»Schau, wie du auf dem Bild strahlst, Kind!«, hatte Susi noch Jahre später jedes Mal gesagt, wenn sie das Einschulungsfoto hervorgekramt hatte. »Nie zuvor warst du so glücklich wie am Tag deiner Einschulung.«
Seit diesem Tag war Pami immer da. Wir hatten uns in der Schule irgendwann einfach nebeneinandergesetzt. Sie war in der Hofpause nicht von meiner Seite gewichen, obwohl sie auch bei den anderen Kindern beliebt war. Sie hätte so viele Optionen gehabt, aber aus mir unerfindlichen Gründen wollte sie mich als beste Freundin. Sie wohnte mit ihrer Familie ganz in unserer Nähe, wie ich bald herausfand. Ihr Vater war ein sehr großer, sanftmütiger Kerl, der selten mehr als zwei Sätze hintereinander sprach. Ihre Mutter war eine fröhliche, kurvige Frau, die backen und kochen konnte wie eine Weltmeisterin und das auch tat, um die Haushaltskasse aufzubessern. Zu ihren zwei kleinen Brüdern kam später noch eine kleine Schwester hinzu. Ständig waren Freunde oder Verwandte bei den Crusqs zu Besuch. Die Wohnung ähnelte einem Bienenstock: Das Radio dudelte unentwegt, es duftete nach Honiggebäck, und alle unterhielten sich.
Im Gegensatz dazu glich Susis Wohnung einem Meditationszimmer. Ich verstand erst viel später, dass Pami so gerne bei mir war, weil sie diese Ruhe genoss. Ich hingegen liebte das Leben in ihrem Zuhause, lernte automatisch ein bisschen Portugiesisch und erlebte eine offenkundig sehr glückliche Ehe. Meine Mutter sah, wie wohl ich mich bei Susi und in Pamis Familie fühlte. Und so kam sie auch nicht auf die Idee, mich dort herauszureißen, als sie ein Jahr nach meiner Einschulung zu einem neuen Mann namens Sigmund zog, bei dem sie fast zehn Jahre blieb.
Da ich seit meinem sechsten Lebensjahr mit meiner Oma Susi in ihrer Wohnung lebte, bekam die es später so gedeichselt, dass ich Hauptmieter wurde. Somit erbte ich die Preisbindung, während die Mieten um uns herum explodierten. Ich kümmerte mich um Susi und war bei ihr, als sie ihren letzten Atemzug tat. Da war ich 24. Und nach einer Ausbildung zur Köchin, zeitlich begrenzten Billiglohnverträgen und dem neunten Besuch auf dem Arbeitsamt hatten Pami, die Konditorin geworden war, und ich uns die Frage gestellt: »Krücken wir uns weiter für Fremde ab, oder schinden wir uns ab jetzt für uns selbst den Rücken wund?« Die Antwort hatte nahegelegen.
Die restliche Woche verlief im üblichen Chaos. Morgens kam Pami vorbei und half mir, die Waren in den Transporter zu laden. Eine fuhr aus, die andere machte die Buchhaltung und bereitete die Backstube vor. Gegen ein Uhr kam Lina aus der Schule, machte ihre Hausaufgaben und traf sich dann meistens mit ihren Spielkameraden, während Pami und ich buken, kreierten, kochten und hinterher abwuschen.
Samstagnachmittags stand stets ein Anstandsbesuch zu Kaffee und Kuchen bei Pamis Eltern an, auch diese Woche. Wir bereiteten also die Waren für die noch spärlichen Sonntagsbestellungen vor, sammelten Lina am Spielplatz ein und gingen über den Helene-Weigel-Platz zur Nummer dreizehn. Familie Crusq wohnte nun seit siebzehn Jahren in diesem riesigen Hochhaus. Die Aussicht über Berlin war ihr ganzer Stolz.
Lucrecia, Pamis Mutter, öffnete die Tür. Sie trug ihr dunkelblaues Lieblingskleid, das ihre Kurven nahezu magisch umfloss. Vier Kindern hatte sie das Leben geschenkt, und mit jedem waren ihre Hüften und ihr Busen etwas praller geworden. Ich stellte mir vor, dass sie vor der Schwangerschaft mit Pami ähnlich schlank gewesen war wie diese vor Linas Geburt. Lucrecia hatte ihr Haar zu einem dicken Zopf gebunden, der lustig hüpfte, als sie sich auf Lina stürzte. Die paar Brocken Portugiesisch, die ich seit meiner Kindheit aufgeschnappt hatte, reichten aus, um zu verstehen, was die Crusqs redeten, wenn sie stritten und nicht wollten, dass ich mitbekam, worum es ging. Und wenn Lucrecia ihr einziges Enkelkind herzte und besang, dann verstand ich das auch.
Pamis Vater Rhys kam mit einem Stapel Tassen aus der Küche, besah mit seinen gütigen Augen das Geschehen und verlangte von seiner Frau, sie solle etwas von Lina übrig lassen. Die lachte und wandte sich Pami zu, ehe sie mich um keinen Deut weniger herzlich umarmte. Manchmal nannte sie mich ihre minha filha branca , dachte aber wohl, ich verstand nicht, dass es so viel wie »meine weiße Tochter von einer anderen Mutter« bedeutete. Und ich behielt mein wohliges Herzklopfen, das ich bei diesen Worten verspürte, für mich.
Der große Kaffeetisch war gedeckt, und Pamis jüngere Brüder und ihre kleine Schwester hatten sich um ihn versammelt. Wie üblich steuerten wir Gebäck zum Kaffeetisch bei, und wie üblich wurde an ihm herumkritisiert. Heute fand Rhys die Mandelstangen zu weich, Lucrecia die Küchlein zu trocken, und es wurde darüber diskutiert, was wir hätten anders machen müssen.
Als das Gespräch zu den Erlebnissen der vergangenen Woche überging, verfiel Rhys wie immer in Schweigen. Es war keine unangenehme Stille, er erzählte einfach ungern von sich, lauschte dafür aber umso gebannter Pamis Ausführungen über den Alltag – über Kunden, Sonderwünsche, volle Straßen, Supermärkte und Angebote für Kokosmilch in Dosen. Lucrecia stand ihr mit Rat und Tat zur Seite, ihre Brüder stichelten etwas gegen ihre große, selbstständige Schwester, und ich unterhielt mich mit der kleinen Schwester über die Schule. Sie war gerade fünfzehn Jahre alt geworden und fand Jungs doof.
»Halt diesen Zustand fest, solange du kannst!« Ich lachte. »Es macht alles sehr viel einfacher.«
Wie so oft durfte ich nach dem Essen nicht beim Abwasch helfen, sondern ging mit Rhys auf den Balkon, um zu rauchen. Er setzte sich mühsam auf den Plastikstuhl und streckte sein lahmes Bein aus.
Rhys war fast zwei Meter groß und arbeitete die ganze Woche auf dem Bau, dementsprechend ramponiert war sein Rücken. Seit ein paar Jahren ging er etwas krumm. Nur wenn Lucrecia traurig war, schien er seine Flügel auszubreiten, um ihr darunter Schutz zu gewähren. Vor zehn Jahren wäre er bei einem Autounfall fast ums Leben gekommen. Ein Rettungssanitäter hatte ihn ins Leben zurückgeholt, ihm bei der Herzdruckmassage aber zwei Rippen gebrochen. Überdies war ein Stück Metall in seinem Bein stecken geblieben, das dann im Krankenhaus entfernt worden war. Seitdem hatte er chronische Schmerzen. Nachdem er sich wieder erholt hatte, hatte er dennoch darauf beharrt, seine Familie mit seinem Job als Bauarbeiter durchzubringen. Lucrecia arbeitete in einem Secondhandladen, als Übersetzerin und seit Rhys’ Unfall ehrenamtlich für das Deutsche Rote Kreuz. Pamis älterer Bruder war Kfz-Mechaniker, der jüngere machte eine Ausbildung zum Drogisten. Der Löwenanteil des Startguthabens für unser Unternehmen kam von den Crusqs.
Wie immer redeten Rhys und ich in den paar Minuten auf dem Balkon über unser Lieblingsthema: Pami.
»Isst sie auch gut? Ist sie glücklich?«, fragte er.
»Sie isst viel gesünder als ich, und sie ist gerade verliebt.«
»Schön, das ist gut! Kennst du den jungen Mann?«
»Ich habe ihn ein paarmal getroffen. Ich glaube, er ist sehr nett.«
»Pamela mit einem Netten?«
Ich lachte und zog an meiner Zigarette, bevor ich erwiderte: »Wär doch mal was!«
»Verdient er sein eigenes Geld?«
»Wenig, aber ja. Er ist etwas jünger als wir.«
»Wie lange geht das schon?«
»Seit einem Monat, und sie telefonieren fast jeden Tag. Scheint was Ernstes zu werden. Aber Pami hält sich wie immer alles offen.«
»Mag Lina ihn denn?«
»Sie hat ihn erst einmal getroffen. Sie ist aber ganz angetan von ihm, glaube ich.«
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