Nachdem sich auch meine einstigen Lebensgefährtinnen wohlgenährt von mir abgewandt hatten, begann die Zeit des Hoffens und Bangens. Ausgequetscht wie eine Zitrone nahm ich vorerst Abstand von dem sogenannten trauten Heim und verlagerte die Interessen an den Tresen. Gemäß der Redewendung „Freunde in der Not gehen hundert auf ein Lot“ wurden selbst schwierigste Lebenslagen überbrückt. Die daraus entstandene wechselseitige Beziehung zu meinen Gefühlen war der Auslöser für eine Gleichgültigkeit gegenüber Pflichtaufgaben und der eigenen Gesundheit. Die Brücken zu wahren Freunden wurden von mir abgebrochen und man suchte Trost bei denjenigen, welche mit den gleichen Problemen zu kämpfen hatten. Selbst das Aufbäumen des Organismus in Form einer akuten Lungenentzündung wurde bis zuletzt ignoriert.
Trotz der unterzogenen Therapie war ich immer noch der Meinung, die Krankheit aus eigener Kraft zu besiegen. Diese utopische Selbsteinschätzung wurde nach erfolgreich eingehaltenen Durststrecken binnen kürzester Zeit widerlegt und das Versäumte in doppelter Weise nachgeholt. Im letzten Abschnitt vor der endgültigen Einsicht wurde auch noch mein Pflichtbewusstsein außer Kraft gesetzt. Der Alkohol machte bei der Verwüstung von Körper und Geist keinen Unterschied. Um einen Einblick in das wahre Ausmaß der Zerstörung zu geben, beginne ich mit den Hinterlassenschaften der psychischen Schäden.
Im fortgeschrittenen Trinkerstadium entwickelte sich eine Apathie am Leben, welche zu Schwankungen im inneren Gleichgewicht führten. Jedes auftretende Problem wurde mit Bier kaschiert, was wiederum die noch verbliebenen Zellen ergrauen ließ und eine konstruktive Gesinnung verhinderte. Die Suche nach Lösungsmöglichkeiten stellte eine Belastung dar und führte zu einer Hilflosigkeit gegenüber der Vormachtstellung des Alkohols. Der Bezug zur Realität schwand zunehmend und ich hielt mich mehr denn je in einer Traumwelt auf. Nach der erwähnten Heilbehandlung inklusive Regenerationszeit stellten sich die alten Gewohnheiten wieder ein und ich nahm die vertraute Position am Stammtisch wieder ein. Im Kreis von „Suchtlern“ fiel mein geistiger Verfall nur unwesentlich auf und gab daher auch keinen Anlass, den vom Körper ausgesendeten Signalen übermäßige Bedeutung beizumessen.
Das ständige Wechselspiel zwischen Hoffnung und Misserfolg übte einen immensen Druck auf das Innenleben aus, sodass sich der Gemütszustand innerhalb von Minuten änderte. Aus einem Freudentaumel wurde plötzlich ein Wutausbruch und stieß bei den Anwesenden auf Unverständnis. So verlor ich öfters die Kontrolle über mich selbst, was zu Einbußen bei dem mir entgegengebrachten Respekt führte. Ich passte mich mit zunehmendem Alkoholkonsum dem Niveau der anderen an und vergaß sämtliche ethnischen Grundsätze. Zwar waren diese emotionellen Ausraster nicht alltäglich, gaben aber bei Gemeinschaftsaktionen wie Dart- oder Kartenspielen den Ausschlag, mich kurzerhand zu eliminieren. Dies führte letztendlich zu zahlreicher Nichtberücksichtigung und bescherte mir den Status eines Ersatzspielers, dem man nur im äußersten Notfall einen Einsatz gewährte.
Dieses ständige Wegschieben auf das Abstellgleis war natürlich Gift für das bereits angefressene Nervenkostüm und musste mit dem Gegenmittel Alkohol aus dem Körper entfernt werden. Die daraus entstandene Unsicherheit begleitete mich über die Gesamtheit der Abhängigkeit. Vergleichbar mit einer Spinne, baute die Sucht ein engmaschiges Netz, um eventuelle Befreiungsschläge schon im Keim zu ersticken. Ich wog mich in dem Glauben, durch Auftanken mit Bier das Denkvermögen bei gemeinsamen Events zu steigern. Doch im Gegensatz zu den Mitspielern, welche gänzlich auf alkoholische Getränke verzichteten oder aber sich an einem Radler den ganzen Abend lang festhielten, war meine Wenigkeit schon nach der ersten Spielrunde nicht mehr aufnahmefähig.
In den letzten Wochen vor der Therapie verzichtete ich angesichts des verletzten Stolzes auf jegliche Veranstaltung und nahm lieber die Rolle eines stillen, trinkenden Beobachters ein. Die unter ständigem Alkoholeinfluss entstandenen Konzentrationsschwächen bildeten die Grundlage für auftretende Gedächtnislücken, welche dann unter Mithilfe von Beteiligten wieder einigermaßen geschlossen werden konnten. Daher glich die peinliche Befragung von Bekannten zu den verpassten Abläufen einer momentanen Bestandsaufnahme, welche jedoch mit Vorsicht zu genießen war. Es war einfach, mir als Unwissendem etwas unterzujubeln, da ich durch die vielen Blackouts dem mir Zugetragenen notgedrungen Glauben schenken musste.
Diese Ereignisse durchlebte ich immer wieder mit einem Schamgefühl in den zerrissenen Träumen. Dieses permanente nächtliche Abspielen der schlechten Filme führte zu zeitweiligem Aufrechtsitzen während der Schlafphase und hinterließ mir für die darauffolgenden Tage eine große Last an Reumütigkeit. So wurde aus einer lebensbejahenden Person ein Häufchen Elend, das sich überall für das unpassende Auftreten entschuldigen musste. Reuezeigen gehört zu einem typischen Gebaren eines Alkoholabhängigen und machte auch vor mir nicht Halt. Mit der Zeit werden solche Aktionen einfach weggesteckt und man agiert als gesellschaftlicher Spaßmacher, sogenannter Vollgasdepp. Das Selbstwertgefühl war dahin, das Ansehen ruiniert und die wahren Freunde wandten sich zunehmend von mir ab. Ich wurde zu einem Objekt der Begierde, man verfolgte akribisch jede von mir begangene Handlung, um an Gesprächsstoff für die Nichtanwesenden zu gelangen. Mit dem Gefühl der ständigen Beobachtung schlichen sich letztendlich dumme Fehler ein, woraus wiederum eine totale Verunsicherung entstand. In diesen Momenten sehnte ich mich nach Rehabilitierung, doch war diese bei der labilen Lebensweise in weite Ferne gerückt.
Bei den getätigten Recherchen in puncto Erkundigung nach dem Wohlbefinden eines Menschen fielen mir gravierende Unterschiede in anderen Ländern auf. Während der US-Amerikaner bei seiner Fragestellung „How are you doing?“ immer mit der gleichen Antwort: „Thanks, I am fine“, rechnen kann, erfährt man bei der gleichen Anfrage bei einem Bundesbürger die wichtigsten Auszüge aus dem Krankenbericht der letzten drei Wochen. Durch die in den Staaten gemachten Erfahrungen gehörte es für mich nicht zum guten Ton, andere mit meinen Problemen zu belästigen. Trug ich den Kopf unter dem Arm, erübrigte sich eine Nachfrage von ganz allein.
Heutzutage bietet sich dank der neuesten Technik die Möglichkeit, seine Wissbegierde mit einer SMS zu stillen. Daher kann ich einen Bekannten, welcher sich im Bus nur drei Sitzreihen vor mir aufhält, problemlos nach seinen Gefühlsregungen befragen, ohne ihm vor dem Aussteigen ins Gesicht blicken zu müssen. Die Anpassung an amerikanische Verhältnisse kann man in der Alkoholgesellschaft ab und an erkennen. Da bei der tristen Lebensführung kaum Bewegung eintritt, erhält man nach der üblichen Floskel „Wie geht’s?“ immer das Gleiche als Antwort: „Wie soll’s schon gehen?“
Dies beschreibt exakt den Zustand, welcher einem vor dem ersten Bier zugrunde lag. Die Redseligkeit trat in den meisten Fällen erst dann ein, wenn die anderen einen in Anbetracht der Artikulation sowieso nicht mehr verstanden. Man war nicht mehr gefragt und versuchte mit überholten Geschichten die Gunst der anderen Gäste zu gewinnen. Dass man mit alten Kamellen nicht mal mehr einen Hund hinter dem Ofen hervorlocken konnte, war den meisten in ihrem Brausekopf nicht mehr bewusst und endete in Selbstgesprächen. Die einstige Überzeugungskraft erlahmte zunehmend und das Gerüst zur Stabilisierung der eigenen Person fing an zu schwanken.
Die Zeiten, in denen man sich mit sich selbst beschäftigte, hingen vom jeweiligen Suchtverhalten ab. Tage der Einsicht gerieten nach einem erneuten Rauschzustand in Vergessenheit. Es ist schwer, jemandem Einblick in das Leben eines Suchtkranken zu verschaffen, da der Betroffene meist selbst nicht weiß, inwieweit er vom Teufel geritten wird oder aber die wahren Gründe verschweigt. Die letztere Variante wendete ich in meiner schlimmen Zeit des Öfteren an und verteidigte mein Verhalten mit paradoxen Ausreden. Mit jedem Bier wuchs der Ideenreichtum an Entschuldigungen, welche vor allem beim täglichen Arbeitseinsatz vonnöten waren. Die zu erwartenden Folgen kaute ich im Schlaf schon einmal vor, um gegen eventuelle drastische Arbeitgebermaßnahmen gewappnet zu sein.
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