Die Unehrlichkeit gegenüber mir und anderen kostete etliche Jahre an ungenutzten Möglichkeiten zu einer sorgenfreien Lebensführung. Weil man aber das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen kann, hilft in meinem Alter auch kein Wenn und Aber. Sieht man einmal von den finanziellen Einbußen ab, welche durch mein uneinsichtiges Verhalten entstanden, schädigte ich durch die Trinkerei meine Psyche sowie lebenswichtige Organe. All dies versucht man mit dem nächsten Bier zu verdrängen und verspricht sich selbst Besserung, ohne jedoch einen Zeitpunkt zu nennen. Beim sogenannten Freundeskreis konnte ich mit dieser Erkenntnis nicht punkten. Jeder Versuch eines vorzeitigen Austritts aus dem Klub der Säufer wurde durch die Mitglieder schon im Ansatz zu Fall gebracht. Den Begriff „Alkoholiker“ redete man sich mit der Bezeichnung „Freizeittrinker“ schön und betonte dabei die Zeiten der Enthaltsamkeit, welche niemand nachprüfen konnte.
Durch den Verlust des eigenen Ichs endeten viele weitere Aktionen in meiner genierlichen Vergangenheit in einem Chaos. Die von mir selbst herbeigeführte Unbeständigkeit am Arbeitsplatz stürzte mich zusehends in eine schwere finanzielle Misere, deren Höhepunkt mit einer Räumungsklage erreicht wurde. Dank eines Darlehens vom Jobcenter, konnte diese zwar noch rechtzeitig abgewendet werden, doch erhöhten sich damit gleichzeitig die Verbindlichkeiten, welche ich bis zum heutigen Tag abstottere.
Die Abhängigkeit vom Wohlwollen anderer gehörte in der Zeit des übermäßigen Bierkonsums zu einem Privileg und war gleichzeitig ein Indiz für die Handlungsunfähigkeit. Ein Abhängiger lebt in den Tag hinein und befasst sich mit aufkommenden Problemen ausschließlich während der Schlafphase in der Hoffnung, dass sich diese bis zum nächsten Morgen von alleine lösen. Da ich nur noch wenige Haare auf dem Kopf hatte, wurde mir die Möglichkeit eines eigenständigen Herausziehens aus dieser Misere vorenthalten.
Die steigende Resignation war der ideale Unterbau für die erlebte Gutgläubigkeit, welche den bisherigen Enttäuschungen noch weitere folgen ließ. Dadurch hatte der Alkohol einen großen Schritt in Richtung Totalzerstörung gemacht. Willenlos und ohne Aussicht auf Besserung führte man mich, vergleichbar mit einer Marionette, zu den verschiedenen Trinkquellen. Die Freude auf einen neuen Tag war nicht mehr gegeben, da die seelischen Belastungen wie Kletten an mir hafteten. In dieser Lebenslage war es für Dritte ein Leichtes, die Oberhand über meine Person zu bekommen. So setzte ich aufgrund der Leichtgläubigkeit ständig meine Paraphe unter Verträge, welche zu meinen Ungunsten abgefasst wurden. Dies zog sich wie ein rotes Tuch durch die Trinkerzeit und ließ mich unbeachtet von den Urhebern ein ums andere Mal auf die schon wunde Nase fallen. Auch einige der sogenannten Kumpels nutzten die Momente meiner Unachtsamkeit, um sich an dem wenigen, was mir noch blieb, zu bereichern.
Doch trotz dieser Niederschläge glaubte ich weiterhin an das Gute im Menschen. Als Ausgleich zu den unterdrückten Gefühlen sorgte dann wiederum der Suff, welcher nach einigen Bieren den seelischen Schmerz betäubte und einen beruhigt auf das nächste Missgeschick vorbereitete. Die Fehlstunden bei der aktiven Teilnahme am normalen gesellschaftlichen Leben häuften sich, sodass ich mich immer öfters den Gepflogenheiten des Trinker-Klüngels anpasste, welche vom Inhalt her leicht zu verstehen waren. Als Zielsetzung galt, den Körper in ständigen Ausnahmezustand zu bringen. Hierbei wurde der Alkohol zu unserem Schutzpatron auserkoren, welcher auch hilfsbereit für den ständigen Nachschub sorgte.
In dieser Elitegruppe war auch keine höhere Bildung vonnöten, da sich nach jedem zweiten Satz eh alles wiederholte. Ein damaliger Bekannter wurde von dem Wort „kompensieren“ dermaßen inspiriert, dass dieses einen Ehrenplatz in seinem sprachlichen Repertoire erhielt. Trotz falscher Aussprache, nämlich „komponieren“, wandte er es fortgesetzt an. Entwickelte sich ein normales Gespräch zu einer geistig anspruchsvollen Unterhaltung, merkte man bei einigen, wie sich plötzlich das Verbindungskabel vom Kopf löste. Doch wer einmal mit dem Alkohol verbündet ist, achtet nicht auf Feinheiten, sondern passt sich uneingeschränkt dem Niveau der anderen an. Man fühlt sich inmitten einer sich täglich wiederholenden Soap, in der sich die Mitwirkenden der Crew nur unwesentlich voneinander unterscheiden.
Verblich einer aus unserem Kreis, wurde der angestammte Platz von einem bereitwilligen Newcomer automatisch „komponiert“. Ich geriet immer mehr in den Sog der Gleichgültigkeit und teilte mein geistiges Vermächtnis mit Leuten, deren einziges Bedürfnis die Selbstabfüllung war. Das dadurch entstandene Auseinanderleben von den wahren Freunden schlug mir ein ums andere Mal dermaßen auf das Gemüt, sodass ich öfters versuchte, den Kontakt wiederherzustellen. Meist wählte ich hierfür den ungünstigsten Zeitpunkt, und zwar im Anschluss einer erfolgreichen Kneipentour. Bei jedem geführten Telefonat beteuerte ich, mit dem Trinken aufzuhören, obwohl sich das zuvor eingeschenkte Weizenbier in unmittelbarer Nähe befand. Der Fehler, den ich damals beging, lag ganz einfach in der unkontrollierten Ausführung des angekündigten Vorhabens. Ergaben sich erste Anhaltspunkte für eine eventuelle Wiederannäherung, wurde aus purer Freude darüber sofort nachgeschenkt statt nachgedacht. Die Konsequenzen hieraus waren absehbar und ich verlor letztendlich meine ganze Glaubwürdigkeit. Hätte ich mir früher bei jeder selbst verschuldeten Bruchlandung in den Allerwertesten gebissen, besäße ich zwar heute keinen Hintern mehr, doch wären meine Schuldgefühle in einem überschaubaren Rahmen geblieben.
Beglückende Gefühle teilte ich anstandshalber immer mit meinem Freund, dem „Alkohol“, und das Wort „Achtsamkeit“ gewann nur im Hinblick auf einen leeren Bierkasten an Bedeutung. Die ganze Denkweise war vom Zustand abhängig, der durch den Gerstensaft bestimmt wurde. Die ständige innere Unruhe, verursacht durch das übermäßige Trinken, kam auch während der Schlafphase nicht zum Stehen. Ähnlich dem Film „Angst essen Seele auf“ von R. W. Fassbinder, durchlebte ich skurrile Abschnitte in den Träumen. Da ich mich überwiegend in der Defensive befand, steckte mein Körper in einem fortwährenden Abwehrkampf. Diese Verteidigungsbereitschaft führte bei besonders hartnäckigen Phantomen zu Blessuren an Armen und Beinen, welche ich mir in den Gefechten am metallenen Bettrahmen zuzog. Die dadurch auftretenden Schmerzen zwangen mich letztendlich zu einer Kampfpause, die ich bei eintretendem Bewusstsein dazu nutzte, um mein Schlafzimmer nach möglichen Feinden abzusuchen. So wurde aus einem herbeigesehnten erholsamen Schlaf ein nervenaufreibendes Abenteuer mit Wiederholungsgarantie. Besonders lästig waren auch die nicht enden wollenden Karussellfahrten vor dem Einschlafen nach einem überzogenen Kneipenbesuch. Am nächsten Tag fühlte ich mich wie gerädert und hatte schon Angst vor der bevorstehenden Nacht. Um diesen Horrorszenarien Einhalt zu gebieten, war ich sogar bereit, für einige Tage den Alkoholkonsum zu drosseln.
Meine einstige Verhaltensweise glich einer Selbsttäuschung, welche jeder Suchtkranke perfekt anwendet. Man schlüpft eigennützig in die Rolle des Unbelehrbaren und macht dies auch offenkundig. Jegliche angebotene Hilfe wird von sich gewiesen und als unrechtmäßiger Eingriff in die Privatsphäre angesehen. Die Gesellschaft ist in den Augen eines Trinkers nichts weiter als ein ständiger Beobachter und Besserwisser. Durch die prüfenden Blicke der Allgemeinheit entwickelte sich bei mir ein schleichender Verfolgungswahn, welcher mein Tätigkeitsfeld massiv eingrenzte. Die Welt bestand damals für mich überwiegend aus Spannern, deren Anwesenheit ich in vielen Situationen des täglichen Lebens wahrnahm. Vor dem Verlassen der Wohnung spielten sich in meinem Kopf virtuelle Szenen ab, welche den Gang zum Einkaufen oder in die Kneipe zu einem Spießrutenlauf machten. Diese Bangigkeit hinterließ zusätzliche Spuren an der eh schon vorhandenen Unsicherheit. Erst auf dem Heimweg verschwanden aufgrund des Zustands diese Gefühle der Überwachung und so konnte ich mich vollends auf das Abstützen an den verschiedenen Hauswänden konzentrieren. In meiner einstigen egozentrischen Denkweise verharrte ich in der Meinung: Ist doch schließlich mein Leben, mit dem ich unachtsam umgehe!
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