Es gab aber auch lichte Momente, in denen sich das Blatt zu wenden schien. So geschehen bei den zahlreichen Krankenhausaufenthalten, bei denen ich die Zeit zum Nachdenken nutzte. Die dort gefassten Zielvorhaben wurden einige Tage in die Tat umgesetzt, doch schien ein endgültiger Durchbruch bei den sich angehäuften Arbeiten nicht zu gelingen. Also suchte ich nach anfänglichem Eifer ohne nennenswerte Erfolge wieder meine Stammkneipe auf und erzählte allen von den guten Absichten.
Wollte man zum Kreis der Elite zählen, wurde das tägliche Erscheinen zu einer Art Pflichtleistung. Zudem hatte man die Möglichkeit, die Gespräche vom Vortag nochmals mitzuhören, da es an sonstigen Neuigkeiten mangelte. Die Themenvielfalt bei den stattfindenden Unterhaltungen war sehr eingeschränkt und es bedurfte schon einer Topmeldung, um das Interesse der meist in sich gekehrten Gäste zu wecken.
Zu einem Muss gehörte auch das gemeinsame Anschauen eines Fußballspiels. Da die meisten Übertragungen erst abends stattfanden, das Gros sich aber schon den ganzen Tag im Lokal abmühte, saßen die Nüchternsten in der ersten Reihe. Die dahinter Platzierten, welche alles in 4D sahen, erfuhren in der Halbzeit beziehungsweise am Ende den wahren Spielverlauf. Auch ich war gegen Sehstörungen nicht gefeit und sah teils 44 Spieler dem Ball hinterherjagen. Dieses Handicap wurde durch das Zuhalten eines Auges von mir bewältigt.
Natürlich gingen diese ständigen Gaststättenbesuche nicht spurlos an meinem Geldbeutel vorbei. Mit der Zeit verlor ich jeglichen Bezug zu den Finanzen, rechnete in Weizenbier anstelle von Euros und gab mich erst zufrieden, wenn ich pleite war. Mein Lieblingsgetränk kostete damals in der Gastronomie 2,50 Euro. Nahm ich für zu Hause die billige Variante aus dem Discounter, erhielt ich für das gleiche Geld sechs Flaschen, die die Hälfte des Tagesbedarfs deckten. In besonders schweren Zeiten konnte ich mich mit dem Pfandgeld noch einigermaßen über Wasser halten. Um Aufsehen zu vermeiden, verlief die Flaschenrückgabe meist in den dunklen Abendstunden und bereitete nur in den Sommermonaten Schwierigkeiten.
Bei vorrückendem Ultimo entstand immer gähnende Leere im Geldbeutel und ich musste mich wieder auf das Organisationstalent verlassen. Man verlagerte das Suchtbegehren von der Kneipe in die Privatwohnungen guter Bekannter, in denen man das gemeinsame Interesse ausgiebig wahrnahm. Es wurde sogar gekocht und bei Bedarf auch gesprochen. Damit das feuchtfröhliche Gelage keinen abrupten Abbruch erlitt, sorgten die Beteiligten schon im Voraus für klare Verhältnisse. Der eine stand am Herd und der andere vor der Pfandflaschenstation. Zusammen mit den letzten Hinterlassenschaften aus der Geldkassette besorgte man das flüssige Gold, welches einen reibungslosen Abend gewährleistete. Um die „gute“ Laune nicht zu kippen, ließ ich mir zum x-ten Mal einen Schwank aus alten Trinkerzeiten erzählen, welcher sich aufgrund des Zustands ewig in die Länge zog. Obwohl mich das alles langweilte, hielt ich allein schon wegen der Sucht bis zur letzten Flasche durch. Diese energielosen Anekdoten zeigen auf, mit welcher Unbekümmertheit ich dem Suchtverhalten freien Lauf ließ. Selbst wenn ich die Ohren auf Durchzug stellte, beugte ich mich trotzdem dem leeren Gefasel, um dem eigenen Körper durch den Alkohol noch mehr zu schaden.
Durch die eigene Wohnung und die Teilzeitarbeit blieb mir das Schicksal von einigen Leidensgenossen erspart. Diese zogen, ähnlich wie Berber, durch die Lokale und versuchten dort, durch geschickte Verstellung ihrer tatsächlichen Lebenslage bei einem Unwissenden eine Unterkunft inklusive Speis und Trank zu ergattern. Mein Verdienst reichte für den täglichen Bierkonsum bei Weitem nicht aus, sodass es eines genau durchdachten Finanzplanes bedurfte. Die Deckel in den Kneipen wurden immer zum Ersten beglichen und für die sonstigen Anschaffungen griffen mir gute Bekannte unter die Arme. Dem Einfallsreichtum bei der Beschaffung von Getränken waren keine Grenzen gesetzt und so gab es Spitzenzeiten, in denen ich bei zwölf Gläubigern in der Kreide stand. Gutes Taktieren gehörte zu einer Grundvoraussetzung in diesem nervenaufreibenden Finanzgeschäft. Neidisch verfolgte ich Menschen, die mit viel weniger Geld auskommen mussten und trotzdem den Monat bravourös meisterten. Oft wollte ich diesen Vorbildern nacheifern, doch der geschlossene Teufelskreis, in dem sich meine Wenigkeit befand, ließ kein Entrinnen zu.
Ungeachtet des zunehmenden Gewichtsverlustes wurde das Weizenbier als flüssige Nahrung gegen den aufkommenden Hunger eingesetzt. Nachdem sich mein Magen mit der gegebenen Situation abgefunden hatte, unterließ er auch das mitleidige Knurren. Blieb die feste Nahrung für einige Tage ganz aus, trat der gesamte Körper in den Streik und äußerte diesen in Form von Übelkeit und Fortbewegungsschwierigkeiten. Dies war das Signal zum Essen von leichter Kost, damit der Verdauungstrakt wieder seine eigentliche Arbeit aufnehmen konnte. Aus diesen ständigen Unregelmäßigkeiten entwickelte sich ein Magengeschwür, welches meist im Zusammenhang mit seelischen Konflikten auftrat. Erst nach Jahren konnte ich durch eine erfolgreiche Rollkur von diesem Leiden erlöst werden. Die deutliche Gewichtsabnahme kaschierte ich mit dem Entfernen der Batterie aus der Personenwaage.
Wie schon erwähnt, hortete ich im Gegensatz zu einigen Kumpels einen reichlichen Vorrat an Weizenbieren im Kühlschrank, die als sogenannte Entspannungsgetränke nach den einfallslosen Gesprächen in der Kneipe dienten. Man suchte die einfältige Kommunikation unter Alkoholabhängigen, um dem tristen Alltag zu entfliehen. Hier konnte man die Gesamtheit der Wehwehchen im engsten Kreis aufzählen und je nach Gemütslage eine neu ausgebrochene Krankheit hinzufügen. Ähnlich einem Altweibertratsch, wobei man den Unterschied zwischen Thrombose und Zirrhose ausdiskutierte, verhielt sich das fachärztliche Gespräch am Stammtisch. Wurde jemand aus der Runde für mehrere Tage vermisst, ahnte man das Schlimmste, da die entsprechende Person unlängst über ihre unzähligen Gebrechen berichtet hatte. Doch für alle überraschend, kehrte so mancher nach kurzer Zeit aus dem Totenreich zurück und schüttete in gewohnter Art die Halben in sich hinein.
Als Alkoholkranker fällt auch die gesellschaftliche Zusammenführung von Artgenossen leicht. Durch die einstigen, ständig wechselnden Arbeitsorte während meiner Selbstständigkeit war es ein Leichtes, sich in die Herzen der sogenannten Stammtischbrüder zu stehlen. Nach den ersten geschmissenen Runden gehörte man schon zum engeren Kreis der Elite. Da ich tagsüber arbeitete, hielt man mir bis zum abendlichen Erscheinen einen Sitzplatz warm. Alles war möglich, solange man in zweifacher Hinsicht flüssig war.
In der langen Trinkerzeit lernte ich aber auch die Kehrseite der Medaille kennen. Trat die Zahlungsunfähigkeit bei selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit ein, wurden alle Beihilfen eingestellt und man wurde fortan zur Barzahlung angehalten. Das Abrutschen in die Unterschicht gewährte mir Einblick in das Leben ebenfalls Gestrandeter, für welche diese Maßregelung zum Alltag gehörte. Sie waren im Umgang mit Erniedrigungen geschult und versuchten gemeinsam, diesem eingetretenen Umstand zu trotzen. Da es bei mir immer wieder die Möglichkeit einer entlohnten Arbeit gab, war der Aufenthalt im Reich der Lebenskünstler nur kurzweilig. Entsprechend einem Gezeitenwechsel, verhielt sich meine finanzielle Situation. Nach der Ebbe im Portemonnaie kamen die Momente des Überschusses, die ich jedoch nicht sinnvoll nutzte. Ich mischte mich wieder unter die Leute, welche vorher meinen Stolz verletzt hatten. Das eigene Selbstwertgefühl schrumpfte zunehmend und die Enttäuschungen nahmen zu. Man war mit sich und seiner Sucht dermaßen beschäftigt, dass selbst der Tod vieler Bekannter an den Folgen von Alkohol der geführten Lebensweise keinen Abbruch tat.
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