„Komm doch mal her, Klaus, jetzt drückst du mich noch einmal tüchtig und jetzt esst ihr beiden erst einmal jeder euer Butterbrötchen, was ich euch gemacht habe, und trinkt die heiße Milch. Eine Forelle konnte ich dir jetzt nicht braten, vielleicht fängst du nochmal eine und bringst sie mir. Uns würde es sehr gefallen, wenn du öfter einmal zu uns reinschaust. Du wirst sowieso häufig bei Tante Frida und bei deiner Oma sein und da freuen wir uns dann, wenn du uns besuchst. Wie gefällt es dir denn in eurem neuen Zuhause?“
„Na ja, ganz gut, ich hab auf alle Fälle einen kürzeren Weg zur Schule.“ Als ich nun, mit den besten Wünschen von Frau Kornblume versehen, von der Küche durch den Flur, zur Haustür hinaus, über den Hof und dann durch unser (was heißt hier unser – Kornblums hatten das Gut gepachtet) Holzbogentor lief, wurde mir doch etwas blümerant, unwohl und schmerzvoll ums Herz. So würde ich zumindest heute als Erwachsener meine damaligen Gefühle als kleiner Knirps von acht Jahren beschreiben.
Unsere neue Bleibe war direkt neben dem Mittelgasthof und der Fleischerei Leistner gelegen, nur einhundert Meter entfernt vom Dorfteich, auch Schenkteich genannt. Gleich dahinter war der Fußballplatz; ein Rasenplatz, zumindest dort, wo Rasen war. Meist waren aber nur ziemliche Erdlöcher zu sehen, mit einem Wort – es war ein Huckelplatz par excellence, wo man große Chancen hatte, sich die Fußgelenke zu brechen. Unser neues Haus befand sich auf einer ziemlichen Anhöhe, direkt vor dem erwähnten Fußballplatz, welche über einen ziemlich steilen Anstieg, der schräg von dem Vorplatz des Mittelgasthofes abging, zu erreichen war. Von unserem Haus hatten wir eine gute Übersicht auf den Mittelweg und angrenzende Felder und Wiesen, der auf der anderen Seite von Klewado bis nach Freiberg führte.
Schon seit längerem merkte ich, dass meine Eltern angespannte Debatten führten. Mich jungen Burschen bezogen sie natürlich nicht ein, aber, bedingt durch unsere kleine Wohnung, hörte ich fast alles mit. Zunächst begriff ich noch nicht, um was es sich drehte. Ich hörte, wie sie gemeinsam das Zeugnis der Firma Otto Weber von Radebeul lasen. Diese Firma hatte irgendwie buntes Glas im Angebot. Ich hörte:
Sie waren zuerst in Leipzig und in den letzten zwei Jahren als Hauptvertreter für die Kundschaft in Chemnitz und Westsachsen tätig. Herr Eulenberger hat es durch seinen Fleiß und seine Beharrlichkeit verstanden, für dieses Gebiet in der zweiten Jahreshälfte 1934 12 Prozent mehr Umsatz zu erreichen. Sie können stolz darauf sein, entscheidend zu diesem Ergebnis beigetragen zu haben, wobei wir auch mit unserer Anerkennung nicht zurückhalten wollen. Wenn Sie in diesem Sinne Ihre Arbeit fortsetzen, dann werden wir immer mit Ihnen zufrieden sein und Sie werden im Leben ein gutes Vorwärtskommen haben.
„Herbert, das ist ja bombastisch. Ich wusste schon immer, dass ich mit dir einen exzellenten Könner geheiratet habe!“
„Nun aber Schluss, Gretel, das ist alles Gewäsch, wenn mich die Firma Knorr, Heilbronn, bei denen ich ja zuletzt vor dem Krieg gearbeitet habe, nicht erneut weiter beschäftigt.“
„Ist ja richtig, Herbert, wir gehen gemeinsam noch einmal deine Bewerbung durch, wooobei …“ Mutti stockte, ihre Verwirrung erzeugte plötzlich fürchterlich viele Falten auf ihrer Stirn, „du dich ja eigentlich gar nicht neu bewerben müsstest, denn du warst ja, natürlich vor dem Krieg, angestellt. Sicher brauchst du nur zu schreiben – Bitte um Weiterbeschäftigung bei Ihnen, der Firma Knorr oder so ähnlich, Herbert.“
„Das ist natürlich richtig, Gretel, nur, wäre es nicht gescheit, wenn ich mich parallel dazu hier in der Gegend, zum Beispiel in Freiberg, als Kaufmann bewerbe?“
„Unbedingt, Herbert, tue das! Ich merke, dass du mich dazu nicht brauchst – ich bereite jetzt das Abendessen vor.“
Dann war erst einmal Ruhe mit diesem Thema. Aber schon in einer Woche setzte es sich, nur noch aufgeregter, fort. „Du, die Grube in Freiberg hat sich gemeldet. Ich soll dort nächste Woche vorsprechen.“ Strahlend antwortete Mama: „Herbert, ich hab große Hoffnung, dass wir wieder Wasser unter den Kiel bekommen!“ Ebenfalls überglücklich ging er darauf ein. „Wurde ja auch endlich Zeit – nach diesem unseligen Krieg und all den Sorgen. Auf dem Bauerngut hatten wir zwar eine gute Bleibe mit stabiler Versorgung, aber aus einem Kaufmann kann man so schnell keinen Bauer machen! Übrigens, Gretel, bist du unter die Seefahrer gegangen, weil du vom Kiel und Wasser darunter sprachst?“
„Ach, lass mal, wir hatten neulich in der Gemeinde so ein Thema, weil den Kiesbauers ihr Sohn in der Kriegsmarine war. Uns wurde avisiert, dass er in Kürze zurückkehrt. Er hat seiner Mutter einen fünfseitigen Brief geschrieben, den unser Bürgermeister geöffnet und uns vorgelesen hat. Da war viel vom Kriegsgeschehen auf See und der Hoffnung, dass immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel sein soll, die Rede. Er hatte so lieb an seine Mutti geschrieben. Wir haben fast die gesamte Zeit geweint und geschluchzt.“
„Wieso das, verstehe ich nicht, wenn der Sohn zurückkommt, ist das doch eine Freude.“
„Ach, Herbert, du weißt wieder nur die Hälfte. Man merkt richtig, dass du nicht in Kleinwaltersdorf gelebt hast. Hier sind während des Krieges nur zwei Häuser zerstört worden und eines war das von den Kiesbauers. Sie ist dabei umgekommen – fürchterlich, traaagisch, unheimlich trauuurig!“
Noch vor dem Termin in der Grube Freiberg erhielt Vater einen ziemlich dicken Brief von der Firma Knorr. Aufgeregt nestelte er daran herum, besah ihn von allen Seiten. Mutti sah man die Ungeduld und den Vorwurf gegenüber Vater an, so langatmig zu reagieren. Sie zog ein langes Gesicht, drehte erstaunt ihre Knopfaugen heraus und wunderte sich. Noch immer sagte sie nichts. Nun wurde es selbst Vater zu lang und er schaute hilfesuchend zu mir, der ich ihm gegenüber in der Stube am Tisch über meinen Hausaufgaben saß. Ich begriff schnell und reichte ihm einen Bleistift, den er rasch unter dem Kuvertverschluss hineinschob und hektisch nach oben riss. Laut knisternd zerriss der Verschluss. Ich fand – ziemlich liederlich. Muttis Gesicht veränderte sich aus der Vorwurfsausführung in ein normales, mir geläufiges, aber neugieriges. „Nun, los, Herbert, wird Zeit, dass du aus dem Knick kommst! Gib mir mal rasch her!“ Erstaunt, aber willig, reichte Vater ihr den Briefinhalt. Danach war längere Zeit Ruhe. Mutti las und Vater ärgerte sich schrittweise offensichtlich immer mehr. „Nun gib mal her oder lies vor! Du denkst wohl, ich hab nicht mitbekommen, wie vorwurfsvoll du vorhin geschaut hast, nur, weil ich ein bisschen überlegt habe. Jeder Mensch hat das Recht, auch mal in sich zu gehen. Schließlich war ich dort angestellt und nicht du. Lies endlich vor!“
„Herbert, die von Heilbronn loben dich über den grünen Klee, haben dich aber entlassen!“
„Gretel, jetzt langt’s! Du liest jetzt vor – aber ohne zu kommentieren! Denken kann ich schließlich selbst!“ Er sah, dass ich zusah und zuhörte und gab, ziemlich barsch, an meine Adresse von sich: „Weißt du, Klaus, man darf es, also, ich meine, wir Männer, dürfen es nicht mit der Gleichberechtigung der Frauen übertreiben. Du siehst ja hier selbst, was da für emanzipatorische Vorherrschaftsgebaren entstehen. Du solltest dir das für die Zukunft merken!“ Mutti schüttelte ziemlich energisch den Kopf, wollte kontern, aber man spürte, dass ihr der Inhalt des Briefes jetzt wichtiger war. Sie begann: „Hier erst mal das Zeugnis, Herbert“, sah mich an und ergänzte, „und Klaus. Herr Herbert Eulenberger, geboren 21. 11. 1908, stand vom 1. März 1938 bis zu seiner Einberufung zur Wehrmacht im September 1939 als fest angestellter Reisender in unseren Diensten … wurde er mit unsere Vertretung in Chemnitz betraut. Während seiner, leider nur eineinhalbjährigen praktischen Tätigkeit für unsere Firma hat sich Herr Eulenberger als geschickter Verkäufer erwiesen, der infolge seiner Beliebtheit bei der Kundschaft ansehnliche Umsätze erzielte. Seine Haltung war stets einwandfrei, auch seine verbindliche Art im geschäftlichen Verkehr mit der Leitung unseres Außendienstes war erfreulich. Wir hegten die Erwartung, dass sich Herr Eulenberger zu einer unserer besten Reisenden entwickeln würde. Leider unterbrach der Krieg den weiteren Einsatz. Die wirtschaftlichen Verhältnisse haben sich zu unserem Bedauern nach Kriegsende so entwickelt, dass wir uns gezwungen sehen, Herrn Eulenberger, wie die meisten früheren Mitarbeiter im Außendienst nach ihrer Rückkehr aus der Gefangenschaft zu entlassen. Wir wünschen Herrn Eulenberger alles Gute für seinen ferneren Lebensweg.“
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