Auch seine Schüler bemerkten diesen „Stilwechsel“ und waren ihm dankbar dafür: „[Als wir] ins Obergymnasium kamen, hatten wir das besondere Glück, in der siebten und achten Klasse Reinhold Stecher als Präfekten zu bekommen. Die Heimordnung war für uns in diesem Alter eher eng; jedoch war der Präfekt Stecher nicht nur ein Ausgleich, sondern für die Maturajahrgänge ein großer Segen. Sein Weitblick und seine Lebenssicht, seine Lebenserfahrung durch die Nazizeit und die Gestapohaft, seine harten Kriegsdienstjahre und das Theologiestudium formten ihn zu einer Persönlichkeit, die uns beeindruckte und auf dem Lebensweg bereicherte. Der weite Horizont von Reinhold Stecher, sein reiches Wissen, seine vielen Fähigkeiten, die in ihm schlummerten, und seine freie, unverkrampfte, menschliche Umgangsart, seine Bescheidenheit, sein Witz und Humor, seine schelmischen, pointierten Phantasieausbrüche in gelöster Runde waren für die junge Generation in den Maturaklassen prägend und von größtem Gewinn. Am meisten formte Reinhold Stecher unsere christliche Einstellung durch seine persönliche Lebens- und Glaubenseinstellung, durch seinen Umgang mit der heiligen Schrift, durch seine Ansprachen und Lebensgespräche und durch das gute christliche Klima, das er als Person ausstrahlte. Berge und Bergerlebnisse mit Reinhold Stecher blieben für viele unvergesslich. Viele erinnern sich an die Lectio, die am Beginn des Nachmittagsstudiums um fünf Uhr im Studiersaal auf dem Programm stand. Auf diese Viertelstunde hatten wir uns immer gefreut. Reinhold Stecher berichtete vom Tagesgeschehen in der Politik, er griff ‚heiße Eisen‘ als Themen auf, berichtete von gesellschaftlichen Ereignissen. Manchmal kamen auch militärische Erlebnisse aus seiner über vier Jahre [andauernden] harten Kriegszeit im hohen Norden zum Durchbruch. Er half uns, die Hitlerjahre zu verarbeiten. Reinhold Stecher war kein belehrender Mensch, kein Typ des erhobenen Zeigefingers. Er war kein Erzieher, der auf dem Podest stand. Irgendwelche Druckmittel auf die Jugendlichen waren ihm total fremd. Er begleitete uns ein Stück in unseren jungen Jahren. Er hat mitgeholfen, die Weichen in jungen Jahren sinnvoll zu stellen.“66
Reinhold Stecher selbst beschrieb die Jahre des Präfektseins als „sieben schöne Jahre“,67 und man möchte ihm glauben, dass es in der sonst engen Hausordnung durchaus Platz für die eine oder andere Mußestunde und eine gewisse Ausgelassenheit gab – ein Zeugnis dafür mag folgendes Gedicht sein, das Reinhold Stecher für den „Pauliner Fasching 1951“ verfasst hat und das sich im Nachlass seines Bruders Helmut wiederfand:
1. Und an Hofrat miass mr a no haben
A Direkter oder Regens war ins zschlecht
Wegen was is er verschriern?
Ja – des ständige Spaziern!
Aber sunst war ja der Hofrat alleh recht.
2. Und an Eislaufplatz wöllns a no haben
Wofür man die langen Gummischläuche nimmt.
Lieber Subi, tua net reahrn
Denn des Platzl werd scho wearn
Bis zum Sommer friert der Dreck ja ganz bestimmt.
3. Konferenzen miass’ns a no haben
Jeden Freitag von Halb Zwölfe bis um oans
Ja da huckn unsre Mannder
Redn alle durcheinander
Eppes Sichers woass am Ende nacher koans.
4. An Verwalter miaß mr a no haben
Warum schaut denn der heut gar so finster drein?
Ja, die ganze Unterhaltung
Geht auf Kosten der Verwaltung
Und drum spart ers dann beim Plentn wieder ein!
5. Die Schwester Hedwig miass mr a no haben
Denn wer führte sonst in unsrem Hause Buch?
Heute ist ihr nicht geheuer
Denn der Fasching kommt zu teuer
Und ich glaube fast, sie weint ins Taschentuch.
6. Und a Schiwochn wollns a no haben
Denn die andern Mittelschulen habns a
Alles sucht nach Gegengründ’n
Also wird sich oaner find’n
Und so bleib mr auf dr Gampnwies’n da.
7. Und a Kuahschell miaß mr a no haben
Im Gymnasium drübn in der Direktion.
Liaber Rex-i tat sch bitt’n
Mir sein decht koa Almhütt’n
So was ist ja für die Wissenschaft ein Hohn.68
In demselben Jahr, 1951, promovierte Reinhold Stecher mit der Arbeit „Darstellung und Begriff der persönlichen Weisheit in den Proverbien“ zum Doktor der Theologie.69
Die Dissertation sollte streng genommen seine einzige wissenschaftliche Publikation bleiben – Teile daraus erschienen zwei Jahre später in der Zeitschrift für Katholische Theologie (S. 410 – 451) –, sie ist jedoch durch ihre Quintessenz ebenso entscheidend für das weitere Verständnis von Werk und Person Reinhold Stechers wie der oben beschriebene Erfahrungsschatz aus dem Kontakt mit Schülern im Unterricht und dem Zusammenleben im Paulinum: „Als mir mein Professor diesen Forschungsauftrag zuwies, habe ich nicht geahnt, was für Einsichten, Zusammenhänge und Tiefblicke sich für mich auftun würden.
Der Begriff der ‚persönlichen Weisheit‘ ist schon von rein literarischem Interesse, er beschäftigt aber auch den Religionshistoriker und Religionspsychologen, der ähnliche Erscheinungen in anderen Kulturkreisen vor Augen hat. Vor allem aber wendet der Theologe den betreffenden Stellen seine Aufmerksamkeit zu, weil sie im Lichte des Neuen Bundes auf den Logos hinweisen.
Die ‚Weisheit‘ ist ein theologischer Schlüsselbegriff des Alten Testaments. Sie ist Geschenk, das aus der Ewigkeit kommt, und Erhellung des menschlichen Alltags, sie durchmisst den weiten Raum des Alls und die Tiefen des menschlichen Herzens.
Die sichere Deutung eines literarischen Phänomens beruht zum guten Teil auf der Kenntnis seines Wurzelbodens, der Zeit und des Ortes der Abfassung, des Verfassers und der allgemeinen und speziellen Vorbedingungen des Werkes.
Ich kann ohne die Welt der altorientalischen Sprachen, ohne die Hilfe evangelischer oder jüdischer Gelehrter gar nicht eindringen. Und so ist mir von dieser stillen Reise in die Offenbarung auch ein großer Respekt vor der Ökumene geblieben und die Überzeugung, dass man immer wieder von anderen lernen kann und lernen muss, auch wenn man im katholischen Glauben verankert ist und verankert bleibt.“70
Daneben ist Stechers Einsicht in die Wirkkraft der „didaktischen Poesie“ von nicht zu unterschätzender Bedeutung, ist doch sie das vorrangige Kunstmittel, welches er in seinen Büchern, Predigten etc. fortan verwendet: „Die Sprache ist poetisch und wendet sich an ein bildhaft denkendes Publikum“, sie will vordergründig nicht Wissen, sondern gläubige Lebenserfahrung vermitteln.71 In „Begegnungen auf Mittelwelle“, das 1965 erstmals erscheint – spätere Auflagen tragen den Titel „Liebe ohne Widerruf“ –, wendet Reinhold Stecher diesen Schreibstil schon meisterhaft auf die Passionsgeschichte an, indem er seine Leserschaft unumwunden anspricht und von Beginn an zu verstehen gibt, dass er an dieser Stelle nicht doziert, sondern wie sie vor dem Wunder der Auferstehung staunend steht und um Worte ringt: „Wenn ich könnte, lieber Leser, würde ich versuchen, in Ihnen und um Sie herum Stille zu schaffen. Ich möchte, dass Ihre Gedanken das Tagesprogramm und alle großen und kleinen Sorgen und Aufgaben und Probleme zurücklassen. Bitte verstehen Sie mich recht: ich möchte das alles nicht, weil ich meine Worte für so bedeutungsvoll oder gescheit und einmalig halte. Nein, es geht mir wahrhaftig nicht um meine Worte, sondern um das Geheimnis, dem meine Worte dienen wollen: um Ihre Begegnung mit Gott. Damit ist Er genannt, dessen Namen ein Gläubiger des Alten Bundes nicht aussprechen durfte – und von dem wir so oft und so leichthin daherreden. Gott! Was soll ich von Ihm sagen? Wie soll ich Ihn Ihnen nahebringen? Ihn, den Unendlichen, von dem wir nicht reden, sondern höchstens stammeln können? – Ein aussichtloses Beginnen!“72
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