Neben dem Jesuiten Andreas Jungmann, den Reinhold Stecher des Öfteren in seinen Büchern erwähnte, war eine dieser „überzeugenden und prägenden Persönlichkeiten“ der Theologischen Fakultät in Innsbruck ganz ohne Zweifel der damals schon sehr bekannte und später noch durch seinen unverzichtbaren Beitrag als Peritus beim Zweiten Vatikanum berühmt gewordene Karl Rahner. „In seinem Ringen um das Wort lag so viel Redlichkeit des Denkens und der Tiefe der Visionen, dass er die Hörer einfach in den Bann schlug. Man spürte, dass da ein lebendiger Geist immer wieder aus den viel befahrenen Bahnen der scholastischen Theologie ausbrach – hinein in das Abenteuer des Hinterfragens und des Aufspürens ungewohnter Zusammenhänge. Bei ihm waren die modernen Wissenschaften eingebaut, er bewegte sich in der Welt der Ökumene, der Gegenwart und der Vergangenheit. Ich will nicht behaupten, dass ich ihn in allem verstanden hätte. Aber er war so etwas wie ein Fluglehrer der Theologie, es ging ihm im letzten immer um die große Zusammenschau des Heils. Das war ja bei ihm so beeindruckend, dass er geistig aus einer so komplizierten, problemüberfrachteten Welt voller Fragen und Auseinandersetzungen kam und doch zu dieser letzten persönlichen Schlichtheit des Glaubens fand. Ihm war zutiefst bewusst, dass heute viele Menschen auf dem Weg sind, manche näher, manche weitab. Aber er war auch zutiefst davon überzeugt: So vielfältig sich heute die Seitenarme des religiösen Tastens und Suchens verzweigen und verwirren mögen, es gibt doch eine geheimnisvolle Strömung in ihnen, die zum ewigen Meer drängt, eine Strömung, die wir Gnade nennen und die von jedem Ursprung ausgeht, der gleichzeitig das Ziel aller Dinge ist. Die ganze überbordende Gelehrsamkeit kreiste um eine im Hintergrund glühende Mitte, Christusmysterium.“59 /60
Diese fachliche wie menschliche Bewunderung für Karl Rahner war jedoch nicht nur eine Episode in Reinhold Stechers Studentenzeit, sondern wandelte sich nach und nach in eine lebenslange Verbundenheit mit dem Jesuitenpater, die auch über dessen Tod hinaus reichte und sich mitunter darin zeigte, dass der ehemalige Schüler seinen verehrten Lehrer gegenüber seinen Kritikern immer wieder in Schutz nahm, welche der streitbar Gelehrte damals wie heute hat. Auffallend deutlich wird dieser Umstand in einer Stellungnahme, die Reinhold Stecher bereits als Bischof von Innsbruck traf, nachdem er Karl Rahner, während dessen letzter Stunden, im Krankenhaus besucht hatte, und am 4. April 1984, unter Anwesenheit von Kardinal Hermann Volk, Erzbischof Friedrich Wetter sowie der Bischöfe Paulus Rusch, Karl Lehmann, Egon Kapellari und Ernst Tewes dessen Requiem zelebrierte: „Es war, wie wenn ein Menschenleben nach langer Reise einem Ziel zustrebte, so wie ein großer, breiter Strom zur Mündung kommt, der alle Windungen, Katarakte und Staudämme hinter sich gelassen und viele Schiffe und die Last der tausend Fragen getragen hat und der sich nun dem großen Meer nähert, wo alles einfach wird. Man saß am Krankenbett, konnte mit einem sehr gelösten, ja fast heiteren Menschen reden – und dabei musste man an die Bücherstellagen zu Hause mit der langen Reihe der Rahner-Bände denken, an das gewaltige Wissen und das vielfache Ringen mit den vielfältigen Problemen, die nun einmal diese Epoche dem wachen Glaubenden aufgegeben hatte. Und doch hatte man keinen müden Menschen vor sich, keinen problemzerriebenen, sondern einen sehr gefassten, mit einer fast fröhlichen Distanz zu sich und seinem Werk (eine Haltung, die einigen seiner harten Kritiker abzugehen scheint). Vielleicht war es das, was diesen großen Theologen so menschlich und sympathisch machte: Dass er zutiefst um die Schwierigkeit, die Mühsal, die Unsicherheit und die Gefährdung des Glaubens an Christus in unserer Zeit wusste, und zwar mit einem Wissen, das nicht nur aus einer professoralen Betätigung, sondern aus eigenem Erleiden und Erleben stammte, und dass er andererseits doch das Glück eines Menschen ausstrahlte, der mit seinem Glauben immer wieder nach Hause kommt.“61
Primiz von Helmut Stecher, als sein Konzelebrant Reinhold Stecher (links im Bild)
Reinhold Stecher machte nie ein großes Geheimnis daraus, dass seine Berufswahl während des Studiums auch von Zweifel und Unsicherheiten überschattet gewesen war und keineswegs in jener souveränen Klarheit erfolgte, die sich junge Menschen für diesen Schritt manchmal wünschen. Dennoch ging er 1947 aus ganzer Überzeugung, mit wachem Geist und übervollem Herzen für den Glauben an Jesus Christus zur Priesterweihe, die er zusammen mit seinem älteren Bruder Helmut durch Bischof Paulus Rusch in der Franziskanerkirche in Schwaz empfing. „Warum ich Priester geworden bin? Ich finde es sinnvoll, ein wenig mitzuhelfen, dass Menschen in einer Zeit der Verunsicherung und Entwurzelung im unendlichen Gott und seiner Güte eine Heimat finden. Ich finde es sinnvoll, auf dem bewegten Meer der Zeit immer wieder nach den gütigen Wahrheiten Ausschau zu halten, die weiterzusagen und hie und da vielleicht einen Weg zu weisen – so etwas wie eine Signalboje, die auch von den Wellen geschüttelt wird und doch eine verborgene Ankerkette zum Grund hat, der Christus ist. Ich finde es sinnvoll, Kindern mit den Erzählungen der Bibel ein Urvertrauen ins Herz zu säen, mit jungen Menschen zu diskutieren oder in das Schweigen der Meditation zu gehen, Neuvermählten die Wohnungen zu segnen, Kranke zu besuchen, Vorlesungen vorzubereiten oder den letzten Segen über ein Grab zu senden. Ich finde es sinnvoll, das Brevier aufzuschlagen und in das Gebet der Jahrtausende einzutreten, und ich werde es immer für sinnvoll halten, mich über Kelch und Hostie zu beugen und das Geheimnis der Geheimnisse zu feiern.“62
Erinnerungskärtchen zur Priesterweihe der Brüder Stecher
Sein erstes Messopfer feierte Reinhold Stecher am Christtag 1947 in der Pfarrkirche Wilten, einen Tag nach seinem Bruder, der wiederum seine Primiz als Christmette in der Hofkirche von Innsbruck zelebrierte – der eine dem anderen jeweils als Konzelebrant beigestellt.
Bald darauf fing der „theologisch ausgebildete, spirituell bemühte, von Eifer erfüllte und sendungsbewusste Neupriester“ Stecher an, in der Kinder- und Jugendseelsorge zu arbeiten, wobei eine der ersten Lektionen, die er selbst währenddessen zu lernen hatte und welche ihm eine tiefe und vor allem bleibende Einsicht für sein weiteres Tun verschaffen sollte, jene war, dass die Verkündigung immer eine Sprache mit Herz braucht, die nicht versucht, das Gegenüber mit rhetorischer Finesse zu überreden, sondern durch die Bereitschaft, zuzuhören und das Gehörte auch in seinem Wesenskern aufzunehmen und zu berücksichtigen, ein starkes Gefühl des Miteinanders schafft: „Eines ist mir damals für immer beigebracht worden: In Zeiten wie diesen muss sich die Kirche den Fragen stellen, die ihre Gläubigen haben. Wenn ich den jungen Menschen gegenüber diese Fragen mit irgendwelchen Sprüchen abgewimmelt hätte, dann wäre ich bei ihnen als Lehrer moralisch ‚ausgestiegen‘. So gut man kann, muss man mit dem Blick auf das Evangelium und die fundamentalen Glaubenswahrheiten die Fragen redlich beantworten. Das haben mir die kritischen jungen Menschen beigebracht: den Grundstil einer dialogischen Kirche. Eine dialogverweigernde Kirche kann ihrer Aufgabe in dieser Welt nicht gerecht werden.“ 63/64
Im Besonderen prägend für diese Geisteshaltung waren anfänglich die „Lehrjahre“ im Paulinum, wo Reinhold Stecher von 1949 bis 1956 als Präfekt seine erste Anstellung hatte. Hier erprobte er unter anderem den schwierigen Balanceakt zwischen „dem Noten gebenden Prüfer und dem um das Heil besorgten Priester, zwischen der Forderung in Richtung eines Wissensstandes und der viel bedeutsameren Vermittlung von Werten und Grundüberzeugungen“. Mit anderen Worten erkannte Reinhold Stecher im Bemühen um die Schüler des Paulinums den Grundsatz, der für ihn und seine künftige Arbeit so bedeutsam werden sollte, „dass eine lehrende Kirche gleichzeitig eine lernende sein sollte“.65
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